10 Im Reichstage (1870 bis 1874)
Montag den 9. sah ich die große Parade auf dem Kreuzberg. Die
ganze Garnison von Berlin war ausgerückt. Großer Glanz von Generalen,
Prinzen u. s. w. Ich mischte mich unter das Publikum und war frappiert
durch die Teilnahme des niedrigsten Volkes an militärischen Dingen.
Keine Spur von der früheren Animosität gegen das Militär, die sonst im
Pöbel zu bemerken war. Der gemeinste Arbeiter sah die Truppen mit
dem Gefühl an, daß er dazu gehöre oder gehört habe. Ueberall Erzählungen
über Königgrätz, Düppel u. s. w. von ausgedienten Soldaten, die sich unter
den Zuschauern befanden. Ich ging dann lange noch mit Herrn von
Sybel umher, der die gleiche Bemerkung gemacht hatte. Nachmittags machte
ich Abschiedsbesuche bei Simson u. a. Simson erzählte interessant von
seinem Aufenthalt in Frankfurt. Charakteristisch war folgender Zug. Als
im Jahr 1851 vor Olmütz die liberalen Kammermitglieder zum Kriege
mit Oesterreich drängten, habe er diese Kollegen mit folgender Bemerkung
beschwichtigt: „Sind Sie denn sicher, daß, wenn die preußische Armee
in einem Siegeszug bis vor Wien geht, der König dann nicht den Augen-
blick für gekommen erachtet, Schlesien an Oesterreich zurückzugeben?“
So sehr war Simson von der Abenteuerlichkeit der Ansichten des Königs
Friedrich Wilhelms IV. durchdrungen. Daran reihten sich Erzählungen
über die Wahl in Frankfurt im April 1849 und die Ablehnung der
Kaiserkrone.
In bezug auf die deutsche Frage zweifelt Simson nicht an dem Erfolg
Preußens, sieht aber zurzeit gar keinen Ausweg.
Aus einem Briefe des Kardinals.
Rom, 18. Juli 1870.
Vor kurzem schrieb ich Dir durch Staatsrat Gelzer. Unterdessen haben
religiöse und politische Angelegenheiten sich überstürzt, und Gott weiß, was
daraus wird. Wir werden in treuer Bruderliebe zueinander halten und
an der heiligen Kirche festhalten. Ich bin noch recht betrübt, daß der
gute Friedrich mir nicht diese Zeit noch Gesellschaft leisten konnte, er hätte
mir manchen Nutzen bringen können, aber es war für ihn unumgänglich
nötig, daß er fortkam. Ich empfehle ihn Dir noch besonders. Heute
wird nun die Sitzung stattfinden, wo der Papst das Dogma der Infallibilität
proklamieren soll. Die Bischöfe der Minorität sind teils schon gestern
Abend abgereist, unter andern der Erzbischof von München, teils reisen
sie heute Abend, gehen aber nicht in die Sitzung und haben einen Protest
eingesandt. Ich bin nicht ganz wohl und gehe auch nicht in die Sitzung.
An Kardinal Schwarzenberg habe ich heute Morgen ein paar Worte ge-
schrieben, die ich hier abschreibe, weil sie meine Gesinnungen klar dartun,
natürlich in tiefem Vertrauen: