236 Botschafter in Paris (1874 bis 1885)
Berlin, 17. Juni 1878.
Der gestrige Tag verging mit Besuchen. Abends Diner bei Karolyi
und dann beim Reichskanzler, der mir einen eventuell einzubringenden
Antrag gab und mich bat, dem Kronprinzen am andern Morgen darüber
Vortrag zu halten, da der Staatssekretär nicht früh genug von Potsdam
zurück sein werde. Ich nahm den Antrag mit nach Hause, fand aber,
daß er in ungenießbarem Französisch geschrieben war, weshalb ich mich
damit beschäftigte, ein etwas verändertes Dokument herzustellen. Am
Morgen ging ich dann zum Kronprinzen und sagte ihm, wir würden den
Antrag, der eine Verständigung zwischen Rußland und der Türkei bezüglich
der Festungen und der Truppen vor Konstantinopel bezweckte, nur dann
einbringen, wenn Beaconsfield die Rückzugsfrage von neuem vorbringen
würde. Dann zu Bucher und Holstein, um den neuen Text definitiv
festzustellen.
Um 2 Uhr war Kongreßsitzung. Außer dem Antrage auf Zulassung
der Griechen und einer ziemlich zwecklosen Debatte über § 6 des Friedens-
vertrags von San Stefano kam nichts Besonderes vor. Ich ging mit
Andrässy zu Fuß nach Hause, gefolgt von einer Menschenmenge, die sich
an unserm, besonders an Andraässys Anblick, weidete. Um 6 Uhr war
Diner beim Reichskanzler. Die beiden Türken Karatheodory und Mehemed
Ali haben sich mir noch nicht vorstellen lassen. Ersterer sieht jugendlich
und schlau aus. Mehemed Ali macht den Eindruck eines klugen Mannes,
flößt aber wenig Vertrauen ein. Salisbury, der mir bei Tisch gegenüber-
saß, hat einen merkwürdigen Kopf: hohe Stirn, regelmäßige Züge, langes
Haar, Vollbart und dabei den Ausdruck des Gedrücktseins. Beaconsfield
mißfällt mir stets mehr. Ein scheußliches Judengesicht. Schuwalow der
stets lächelnde, sorgenvolle Hofmann.
Um ½10 Uhr fuhr ich zum Kronprinzen, um ihm über die heutige
Sitzung zu referieren. Dann beschloß ich den Tag bei Lord Odo Russell
in einer glänzenden Soiree.
18. Juni.
Heute nichts Besonderes. Schuwalow verhandelte mit Beaconsfield
und Andrässy über die bulgarische Frage. Abends erfuhr ich, daß die
Herren noch nicht fertig geworden seien, daß Schuwalow erst nach Peters-
burg telegraphieren mußte. So wird die Sitzung morgen sich nur mit
der Frage der Zulassung eines griechischen Vertreters beschäftigen. Abends
bei Bismarck, der unwohl war und vielleicht nicht an der Sitzung morgen
teilnehmen kann.
19. Juni.
Heute Morgen kam Blowitz zu mir. Er sagte, er fange an, über
den Ausgang des Kongresses beunruhigt zu werden. Oesterreich zeige sich