Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Zweiter Band. (2)

238 Botschafter in Paris (1874 bis 1885) 
schieden organisierte Länder den Keim weiterer Verwicklungen in sich trägt. 
Er hielte es für besser, Nordbulgarien ganz unabhängig zu machen und 
Südbulgarien den Türken ganz zu lassen. Was Griechenland bekommen soll, 
ist noch unbestimmt. Die Engländer hätten nichts dagegen, wenn Griechen- 
land vergrößert würde, wollen aber die Türken nicht zur Abtretung von Kreta 
u. s. w. zwingen, und die Türken, die das wissen, werden sich weigern. 
Andrässy hat Waddington gesagt, er müsse Bosnien und die Herzegowina 
besetzen um jeden Preis. Vorläufig handelt es sich bloß um eine Be- 
setzung. 
21. Juni. 
Den ganzen Tag haben Verhandlungen zwischen Schuwalow, Bis- 
marck und Beaconsfield stattgefunden. Man hofft, nachdem die Antwort 
von Petersburg günstig lautet, zu einer Verständigung zu gelangen. 
Den Engländern liegt daran, die Türkei lebensfähig zu erhalten, indem 
ihr der südliche Teil von Bulgarien verbleibt. In Asien lassen sie den 
Russen freie Hand. Odo Russell, bei dem ich heute aß, sprach in diesem 
Sinne. Nach Tisch saß ich lange mit Mehemed Ali bei der Zigarre. Er 
erzählte von seinen Feldzügen und erklärte, wie man Krieg gegen die 
Montenegriner führen müsse. Man könne, meinte er, nur dann zum 
Ziele kommen, wenn man das ganze Land als eine Festung betrachte und 
im Belagerungsweg vorgehe. Er sagt, wenn es wieder zum Kriege komme, 
sei die russische Armee, die vor Konstantinopel steht, verloren. Das glaube 
ich auch. 
Abends beim Reichskanzler, der seinen Vollbart wieder abrasiert hat 
und wieder aussieht wie sonst. 
22. Juni. 
Besuch von Friedberg, der mir erzählte, der Kronprinz sei sehr ver- 
stimmt. Er glaubt, daß ein Attentat auf ihn beabsichtigt sei. Auch sonst 
sei er unzufrieden. Ich hatte nicht Zeit und Lust, mehr zu erfragen. 
Friedberg ist mit Bismarcks innerer Politik unzufrieden, wenn er sich 
auch sehr vorsichtig ausspricht. Die Projekte bezüglich der Wirtschafts- 
politik des Kanzlers hält er für Dilettantenarbeit. Er bedauert den Ab- 
gang Delbrücks; daß der Reichstag aufgelöst worden ist,!) hält er für 
einen Fehler. Die Nationalliberalen seien jetzt die Feinde Bismarcks und 
würden stärker wiederkommen. Ich sehe voraus, daß der nächste Reichs- 
tag den Reichskanzler zu stürzen suchen wird, wenn es diesem nicht ge- 
lingt, sich vorher mit dem Zentrum zu verständigen und dadurch eine 
starke konservative Partei zu bekommen. 
  
1) Am II. Juni, nach der Ablehnung des Sozialistengesetzes am 21. Mai.
	        
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