Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Zweiter Band. (2)

Botschafter in Paris (1874 bis 1885) 243 
das nicht geschah, wurden sie tückisch und suchten jedermann zu verhindern, 
in das Ministerium einzutreten.“ Der Reichskanzler scheint den Gedanken 
eines nationalliberalen Ministeriums definitiv aufgegeben zu haben. Er 
weiß, daß er die Partei gegen sich haben wird, aber er will versuchen, 
ohne und gegen sie zu regieren. Er sagte: „Sie können mich zum Rück- 
tritt zwingen, aber dazu bringen sie mich nicht, daß ich ein Partei- 
ministerium der Nationalliberalen bilde und ihnen die Leitung der Geschäfte 
überlasse, während sie mich wie einen madigen Apfel als Schaugericht auf 
den Tisch stellen.“ 
29. Juni. 
Gestern wurde ich um ½9 Uhr geweckt, um zu hören, daß der Kron- 
prinz mich um ½10 Uhr sprechen wolle. (Ich war sehr spät zu Bett 
gegangen.) Ich fand den Kronprinzen im Garten neben dem Palais, wo 
er gefrühstückt hatte. Wir gingen unter den Bäumen auf und ab, und 
ich erzählte ihm, was im Kongreß vorgeht. 
Um 1 Uhr hatte ich der Redaktionskommission zu präsidieren. Ich 
hielt eine kurze Ansprache, in der ich die Aufgabe der Kommission dar- 
legte. Sie ist angenehm zusammengesetzt. Odo Russell, Oubril, Launay, 
Haymerle, Desprez und Karatheodory. Wir wählten Desprez zum Refe- 
renten. Er erwartete das als selbstverständlich, denn er hatte schon einige 
Paragraphen redigiert, die er uns vorlas. 
Um 2 Uhr war Sitzung. Es wurde die große Frage der Besetzung 
Bosniens und der Herzegowina durch Oesterreich behandelt. Erst las 
Andrässy eine große Erklärung vor, in der er sagte, Oesterreich könne 
nur einer Lösung dieser Frage zustimmen, die den dauernden Frieden 
sichere. Darauf las Salisbury eine Erklärung, der Friede könne am 
besten gesichert werden, wenn Oesterreich einrücke, worauf dann nach und 
nach alle Vertreter zustimmende Erklärungen abgaben. Nur die Türken 
protestierten. Bei Gelegenheit der Debatte über die Rechte, welche Serbien 
bekommen sollte, kam die Rede auf die Juden, wobei Gortschakow gegen 
diese sprach und sagte, er unterscheide „entre juifs et israélites“. Erstere 
seien eine Plage, letztere könnten sehr vortreffliche Leute sein, wie dies das 
Beispiel von Berlin und London zeige. Im allgemeinen war seine Rede 
schwach. 
Nach der Sitzung Spaziergang und Diner bei Borchardt. Abends 
bei der Kaiserin zum Tee. Dann noch zu Bismarck. Er schlief schon. 
Die Söhne und die Fürstin debattierten Wahlpolitik. Sie sagten, alle 
Welt verlange einen Wahlaufruf des Fürsten. Ich riet entschieden ab. 
Wolle der Fürst etwas tun, so möge er einen Brief an einen Bekannten 
schreiben und den in die Zeitung setzen. Darin könne er alles sagen und 
riskiere nicht, sich zu blamieren, wenn die Wahlen gegen ihn ausfallen.
	        
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