266 Botschafter in Paris (1874 bis 1885)
Vereinigungspunkt zu finden, wo seine liberalen Anschauungen zum Aus-
druck gebracht werden könnten. Ueber die Zustände in Rußland erzählte
er viel. Die Regierung verstehe die Bewegung nicht. Seiner Ansicht
nach tut sie unrecht, die nihilistischen Verschwörer und die liberale Be-
völkerung in gleicher Weise zu behandeln. Er gibt zu, daß geheime Ge-
sellschaften mit radikalen Tendenzen bestehen. Er selbst hat solche Radi-
kalen gesprochen; sie haben kein Programm, sondern sprechen nur den
Gedanken aus, man müsse ein altes, baufälliges Haus an den vier Ecken
anzünden und dann ein neues bauen. Die gebildeten Stände, die Ge-
lehrten, Literaten, Beamten, seien alle von der Ueberzeugung durchdrungen,
Rußland müsse eine konstitutionelle Verfassung erhalten, nicht gerade nach
modernem Muster, aber eine Vertretung aus den Semstwos, um die
Finanzen zu kontrollieren und Ordnung in die Verwaltung zu bringen.
Die Bewegung sei ganz allgemein. „Le peuple russe est frémissant.“
Dem Kaiser würde es leicht sein, das Volk durch Konzessionen zu ge-
winnen und einen ungeheuern Enthusiasmus für sich hervorzurufen. Der
Augenblick sei jetzt günstig. Allein der Kaiser, dem man stets vorhalte,
daß Ludwig XVI. durch Konzessionen auf die Guillotine geführt worden
sei, wolle davon nichts wissen. Auch sei er gleichgültig geworden, sehe
nur eine kleine Koterie und werde veranlaßt, gegen die liberale und die
radikale Bewegung in der gleichen Weise vorzugehen. Das erbittere auch
die Gemäßigten, und ganz wohldenkende junge Leute hätten ihm, Tur-
genjew, gesagt, es sei ihnen furchtbar, die Mordtaten, die sie verurteilen,
im Herzen nicht tadeln zu können. Als Tatsachen, die allgemeine Er-
bitterung erregen, erwähnte Turgenjew verschiedenes. So habe man
neunhundert junge Leute, die nur verdächtig gewesen seien, in Zellen-
gefängnisse eingesperrt; von diesen neunhundert seien nach mehrjähriger
Haft sechzig verrückt geworden und viele schwindsüchtig herausgekommen.
An zehntausend junge Leute seien interniert, nach entfernten Städten ver-
wiesen. Damit sei ihre Karriere vernichtet und sie außerstande, sich zu
ernähren. Und das seien nicht bloß nihilistische Verschwörer, sondern der
größere Teil seien Liberale, die ihrer Schwärmerei für eine konstitutionelle
Verfassung Ausdruck gegeben hätten.
In Rußland, sagt Turgenjew, konzentriere sich jetzt alles auf innere
Politik. Die auswärtige Politik beschäftige niemand. Dadurch habe
die slawophile Partei den Boden verloren. Aksakow sei bei ihm gewesen
und habe darüber Jeremiaden angestellt. Den Krieg, der viel Geld und
Menschen gekostet und Rußland keinen Vorteil gebracht habe, verurteile
man auf das entschiedenste, und niemand wolle zurzeit von einem Kriege
etwas wissen.
Von den Ministern sprach er mit der größten Mißachtung. Markow