Botschafter in Paris (1874 bis 1885) 269
zu spät und die jetzigen Maßregeln würden Erfolg haben. Ich wagte
auf die Notwendigkeit konstitutioneller Formen für Rußland hinzuweisen
(Semstwo und Delegationen). Der Kaiser schien damit einverstanden, nur
hielt er es jetzt nicht für möglich, da man jetzt erst Ordnung schaffen
müsse.
Abends im Theater („Maria und Magdalena“ von Lindau). Heute
bei Bleichröder. Er sagt, der Reichskanzler sei unzufrieden mit den
Ministern, die seine Pläne durchkreuzen. Er will die Eisenbahnen
verstaatlichen und findet Widerspruch. Stolberg und Friedenthal erregen
seinen Zorn, ersterer, weil er nichts tut, letzterer, weil er gegen ihn
intrigiert. Der Kanzler sei sehr ärgerlich darüber, daß der Kaiser von
Rußland über ihn schimpfe und klagt über den Undank des Kaisers
Alexander.
Berlin, 22. Mai 1879.
Ich fange an, mich zu orientieren. Die parlamentarische Lage hat
sich seit vorigen Herbst gänzlich geändert. Die Nationalliberalen, die
voriges Jahr noch einen halbwegs guten Verkehr mit Bismarck unter-
hielten, sind jetzt ganz von ihm geschieden. Er stützt sich auf das Zen-
trum und die beiden Rechten und hat dadurch eine ansehnliche Majorität
für seine wirtschaftlichen Pläne.!) Der Rücktritt Forckenbecks hängt
damit zusammen. Es ist nicht möglich, daß der Präsident einer Kammer
im Amte bleibt, wenn er die Regierung und die Majorität gegen sich hat.
Persönlich lassen ihm seine Gegner alle Gerechtigkeit widerfahren. Sach-
lich mußte es zu Konflikten kommen, und Forckenbeck hat recht getan, sich
zurücklzuziehen. Bei den Beratungen in den Fraktionen kam die Lage
noch deutlicher zum Ausdruck. Die Rechte, d. h. die Deutsch-Kon-
servativen, wollte mit dem Zentrum paktieren, Seydewitz sollte erster,
Franckenstein eventuell, wenn Stauffenberg abgehe, zweiter Präsident
werden. Die alte Abneigung gegen das Zentrum machte, daß wir in der
Reichspartei den Vorschlag nicht annahmen, sondern die Vorstände der
Fraktion veranlaßten, noch einen Versuch bei den Nationalliberalen zu
machen. Darüber großer Aerger bei Varnbüler, Stumm und dem Reichs-
kanzler, die es für nötig hielten, erst das wirtschaftliche Programm mit
dem Zentrum durchzuführen, und deshalb den Pakt mit diesem wollten.
Schließlich kam es doch dazu, daß Seydewitz gewählt wurde, der auch ein
ganz guter Präsident zu sein scheint.
Gestern hielt Bismarck eine interessante Rede im Reichstage über die
Getreidezölle.
1) Die neue Schutzzollpolitik.