Botschafter in Paris (1874 bis 1885) 303
Seiner Majestät die Frage erledigt sei. Ich gebe nun zu, daß es aller-
dings für Seine Majestät schwer sein wird, von der einmal gefaßten Ent-
scheidung abzugehen, da der Kaiser die Sache vom Standpunkte des Ge-
müts auffaßt. Auch bin ich der Meinung, daß, wenn Seine Majestät
auf Ihrer Entscheidung beharren, das Staatsministerium sich dem könig-
lichen Befehl zu fügen und der Feier beizuwohnen hat.
Indessen dürfte es sich empfehlen, Seiner Majestät nochmals die Be-
denken gegen die allerhöchste Teilnahme an der Feier darzulegen.
In dem Schreiben Seiner Majestät wird die Gefahr als möglich zu-
gegeben, daß im letzten Augenblick die kirchliche Feier inhibiert werden
könnte, und Seine Majestät legen hierauf besonderen Nachdruck.
Ich glaube, daß diese Gefahr nicht besteht, und daß, wenn die
Inhibierung der kirchlichen Feier stattfände, dies nicht dem Kaiser, sondern
der katholischen Kirche schaden würde. Die Führer der ultramontanen
Partei, welche auf den Klerus bestimmend einwirken, werden viel eher die
Gelegenheit ergreifen, um ihre Loyalität gegenüber der Person des Kaisers
zum Ausdruck zu bringen. Täten sie das Gegenteil, so würde die Feier
doch ihren Fortgang nehmen und die Bevölkerung die Abstention des
Klerus als eine Taktlosigkeit verurteilen. Aber gerade der in Aussicht
stehende freundliche und ehrfurchtsvolle Empfang des Kaisers, die damit
zusammenhängenden Reden und Demonstrationen geben zu Bedenken Anlaß.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die sogenannte kirchenpolitische
Vorlage in der protestantischen Bevölkerung Preußens Beunruhigung und
die Befürchtung erregt hat, es solle auf dem Wege der Konzessionen an
die katholische Kirche weiter vorgegangen werden, als dies der Macht-
stellung und dem Recht der Regierung entspricht. Sehen nun die Pro-
testanten, daß der Kaiser mit den kirchlichen Behörden wohlwollend ver-
kehrt, so werden sie sich sagen: Diese Leute stehen seit sechs Jahren in
der Opposition und im Widerspruch gegen die Staatsgesetze, und diesen
kommt der Kaiser entgegen. Die Agitation der Fortschrittspartei, welche
die Kirchenvorlage als ein Mittel zur Beunruhigung der konservativ ge-
sinnten protestantischen Bevölkerung ausnutzt, würde durch jene Tatsache
neue Nahrung erhalten, und die Folgen würden sich bei den Wahlen er-
kennen lassen. Käme noch der vom Reichskanzler befürchtete Fall dazu,
daß Melchers!) erschiene und den Kaiser in die Lage versetzte, eine un-
gesetzliche Handlung durch seine Anwesenheit zu sanktionieren, so würde
der Eindruck noch bedenklicher sein.
Unter diesen Umständen halte ich es für geboten, daß das Staats-
ministerium dem Kaiser abermals seine Bedenken darlegt.
1) Der abgesetzte Erzbischof.