30 Im Reichstage (1870 bis 1874)
und wir bleiben isoliert, so werden die Ultramontanen Macht genug im
Lande haben, um die Isolierung durchzusetzen und dem Lande plausibel zu
machen. Die österreichisch-französisch-ultramontane Clique wird dann das
Ihrige tun, um uns ganz in die Hände von Oesterreich zu bringen. Die
Jesuiten tun so, als ob sie Oesterreich haßten. Es ist aber nur Schein
und dauert so lange, bis sie dort wieder die Oberhand gewinnen. Auf
die fränkischen protestantischen Provinzen ist nicht zu zählen. Die geo-
graphische Lage macht diesen den Abfall unmöglich. Ist aber einmal ein
Keil in die deutsche Einheit eingetrieben, so weiß man nicht, wie weit sich
dessen Wirkung verbreiten wird.
Berlin, 3. Dezember 1870.
Abreise von München Abends 5 Uhr per Ostbahn. Sehr kalte Fahrt
bei etwa 8°% Kälte. In Leipzig traf ich mit dem Reichstagsabgeordneten
Blum zusammen. Wir fuhren in einem Coupé bis Berlin. Er setzte
mich au fait bezüglich der Auffassung der Parteien im Reichstag über
den Vertrag mit Bayern. Er meint, so wie der Vertrag laute, sei er
nicht anzunehmen. Man wolle ihn nicht verwerfen, aber modifizieren.
Ich versuchte umsonst, ihn umzustimmen. Um 2 Uhr war ich in Berlin.
Ich ging gleich in den Reichstag; die Sitzung war aber schon vorüber.
Die Mitglieder kamen mir entgegen. Die deutsche Frage ist noch nicht
verhandelt worden. Viktor traf ich unterwegs. Dann kam Lutz, der die
Gefahr von Modifikationen besonders darin sieht, daß dann auch bei uns
modifiziert werden würde. Er teilt natürlich ganz meine Ansicht über die
Notwendigkeit der einfachen Annahme. Delbrück, dem ich ebenfalls auf
der Straße begegnete, sprach mir seine Freude aus, mich hier zu sehen,
und hoffte, daß es mir gelingen werde, für die Annahme zu wirken.
Bald darauf begegneten wir auch Münster und Bennigsen. Beide schienen
über die Annahme noch zweifelhaft, so daß ich etwas bedenklich wurde.
Als ich aber zu Simson kam, hörte ich bessere Nachrichten. Dieser glaubt,
daß eine große Majorität für die Annahme ohne Modifikation stimmen
würde. Man hat doch in der nationalliberalen Partei so viel Vertrauen
zu Bismarck, daß man sich sagt, er müsse ganz besondere Gründe gehabt
haben, die ihn bestimmt hätten, so große Konzessionen an Bayern zu
machen. Die Leute vergessen hier, daß ja niemand Bayern zwingen
konnte und wollte. Simson ist gegen den Kaisertitel. Er findet in dem
Wort Kaiser ein Fremdwort, von Cäsar, einem Eigennamen, abgeleitet,
und ist deshalb dagegen. An dem Titel „Reich“ hat er nichts auszu-
setzen, doch wird er seine Liebhaberei oder Antipathie verschweigen.
Abends sprach ich noch Friedenthal, der sich ebenfalls für Annahme
der Verträge erklärt.