Straßburg (1885 bis 1894) 401
Daß Grévy den Frieden will, daran ist nicht zu zweifeln. Er weiß,
daß ein siegreicher General ihn sofort aus dem Elysée hinauswerfen würde,
wie er sich auch nicht verhehlt, daß ein unter ihm begonnener Krieg, der
mit einer Niederlage endet, ihn mindestens seine Stelle kosten wird.
Der Advokat Reitlinger, ein Vertrauter Grévys, mit dem ich in einer
Prozeßangelegenheit zu verhandeln hatte, erbot sich, mit mir über die Be-
dingungen einer Annäherung, einer Allianz zwischen Frankreich und Deutsch-
land zu sprechen. Ich lehnte es ab, da ich zu solchen Verhandlungen
nicht kompetent sei. Auch bemerkte ich ihm, ich wisse sehr wohl, daß die
Franzosen eine Allianz mit Deutschland unter Bedingungen anstrebten, die
ihnen Deutschland nun und nimmermehr gewähren könne. Darauf zog
er ab. Ich sah ihm aber an, daß ich den richtigen Punkt berührt hatte.
Ob es möglich ist, durch Besprechungen in der deutschen Presse, durch
objektive ernste Darlegung der Folgen, welche das Gebaren Boulangers
haben wird, die öffentliche Meinung in Frankreich auf die Gefahr, der
Frankreich entgegengeht, in dem Grade aufzuklären, daß sie einen Druck
auf die Kammer ausübe und dadurch Boulanger zu Falle bringe, wage
ich nicht zu entscheiden. Die auf solche Besprechungen folgende Beunruhigung
der Börse, die den französischen Politikern persönlich sehr fühlbar ist,
könnte immerhin günstig wirken.
Herbette ist ein gefährlicher Mann, der einen gewissen diplomatischen
Tatendurst hat. Er soll nach Berlin gegangen sein in der Ueberzeugung,
daß es ihm gelingen werde, das Rapprochement zwischen Rußland und
Frankreich als etwas Harmloses, Annehmbares erscheinen zu lassen. Die
Orleans sind weiter vom Ziele als je. Der Herzog von Aumale gibt
dem Grafen von Paris kein Geld zur Aktion, und dieser hat nicht ge-
nügende Mittel, um selbst vorzugehen. Aumale will selbst Präsident der
Republik werden, außerdem ist er mit seinem Neffen überworfen, seit Frau
von Clinchant, die er geheiratet haben soll, von der Gräfin von Paris
nicht als Hausfrau bei dem Onkel anerkannt wird. Dieses weibliche Zer-
würfnis soll auch bei der Schenkung von Chantilly, die man als einen
„mauvais tour quil a jouè à ses neveux“ betrachtet, ausschlaggebend
gewesen sein. Daß der Herzog von Aumale je Aussicht habe, Präsident
der Republik zu werden, glaubt niemand. Sollte einmal die erschreckte
Bourgeoisie einen kräftigen Mann zur Aufrechterhaltung der Ordnung
fordern, so wird man nicht den alten, gichtbrüchigen Akademiker, sondern
einen jungen General wählen. Graf Münster, der die Dinge ruhig be-
urteilt und sich gut orientiert hat, teilt die Befürchtungen nicht in gleichem
Maße wie die obenerwähnten Herren. Ich kann nicht in acht Tagen ein
ausschlaggebendes Urteil fällen und beschränke mich darauf, das mitzuteilen,
was ich gehört habe.
Fürst Hohenlohe, Denkwürdigkeiten. II 26