Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Zweiter Band. (2)

Im Reichstage (1870 bis 1874) 43 
ist aber der eigentümlichen Lage Englands, der Klugheit seiner Aristokratie 
und dem Gange der englischen Geschichte zu danken, daß die englischen 
Feudalherren den modernen Staat vermieden und den Uebergang der 
Feudalaristokratie in die Oligarchie des Geldbeutels vermitteln konnten. 
Eine der englischen nachgebildete aristokratische Staatsform würde bei uns 
eine leere Nachbildung bleiben, weil ihr die historische Entwicklung, die 
Erbweisheit des Adels und die materielle Macht der zur Herrschaft be- 
rufenen Klassen fehlen würden. Ueberhaupt bin ich der Meinung, daß 
es immer vom Uebel ist, Parteien mit Rücksicht auf Verfassungsänderungen 
zu konstruieren. Vor allem aber jetzt. Ich meine, wir sollen die Bundes- 
verfassung, die sich denn doch in Norddeutschland seit vier Jahren als 
lebensfähig erwiesen hat, erst weiterarbeiten lassen, um zu sehen, wo eine 
Aenderung etwa am Platze wäre. Gehe ich von diesen Grundsätzen aus, 
so drängt sich mir die Pflicht auf, mich vorläufig abwartend zu ver- 
halten. Ich werde mich der Partei nicht anschließen, welche unter dem 
Titel „bundesstaatlich konstitutionell“ Elemente in sich vereinigt, welche 
auf die Auflösung der eben gewonnenen Einheit des Deutschen Reichs 
hinarbeiten. Ich werde mich aber ebensowenig einer Partei anschließen 
können, welche das eben Gewonnene nur als einen Stützpunkt betrachtet, 
von welchem aus das Werk völliger Unifizierung und Beseitigung der 
Partikularselbständigkeit weiter fortgesetzt werden kann. 
In der Beseitigung der Hindernisse, welche unberechtigter Partikularis= 
mus der Entwicklung der Macht und der Wohlfahrt des Reichs und 
seiner Bürger entgegenstellt, bleibt für praktische Männer, die guten Willens 
sind, reiche Gelegenheit zu fruchtbarer Tätigkeit. Ob ich eine Fraktion, 
die diesen Grundsätzen huldigt, finden werde, das muß ich freilich abwarten. 
Journal. 
Ankunft in Berlin den 21. März 1871. Schon während der Fahrt 
hatte ich gehört, daß die Eröffnung des Reichstages um 1 Uhr statt- 
gefunden habe. Davon hatte man in München nichts gewußt, obgleich 
es hier in allen Zeitungen stand und seit Wochen bekannt war, und 
Perglas, wie er mir heute sagte, dies an Bray schon mehrmals be- 
richtet hatte! 
Um 2½ Uhr war Reichstagssitzung. Ich ging gleich hin, fand 
Roggenbach und Barth dort, mit welchen ich die Frage der Parteibildung 
besprach. Wir kamen zu dem Entschluß, eine Einladung ergehen zu lassen 
an alle süddeutschen liberalen Mitglieder, um uns über die Frage zu be- 
raten, ob man eine neue Partei bilden oder sich einer der bestehenden 
Parteien anschließen solle.
	        
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