Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Zweiter Band. (2)

Die Reichskanzlerschaft und das Lebensende (1894 bis 1901) 539 
neuerer Zeit eine Richtung, eine Form angenommen, die an Vorgänge in 
der Tierwelt erinnert und die einen Fortschritt in absteigender Linie be- 
fürchten läßt. Da ist es denn wohltuend, zahlreiche hervorragende Ver- 
treter der Wissenschaft, die Heroen der Geistesarbeit, hier versammelt zu 
sehen und daraus die tröstende Ueberzeugung zu schöpfen, daß noch ge- 
nügend geistige Kraft vorhanden ist, um die drohende Flut der materiellen 
Interessen auf ihr richtiges Maß zurückzudämmen. 
Möge Ihnen die Lösung dieser Aufgabe auch ferner gelingen! 
Ich trinke auf das Wohl der Wissenschaft und ihrer Vertreter. 
Rede des Fürsten in der Sitzung des Reichstags vom 
12. Juni 1900. 
Meine Herren! Der Abgeordnete Liebknecht hat behauptet, bis zum 
Herbst vorigen Jahres habe keine Begeisterung für eine Flotte im deutschen 
Volk bestanden. Ich kann diese Behauptung nicht unbeantwortet hinaus- 
gehen lassen. Dieselbe ist auch in der Presse hier und da aufgetreten 
und beruht auf einer irrtümlichen Auffassung der geschichtlichen Entwick- 
lung des vergangenen Jahrhunderts. Wenn ich zurückdenke an die Zeit 
vor mehr als fünfzig Jahren und an die Begeisterung für eine deutsche 
Flotte, die damals das deutsche Volk durchzog, und wenn ich mich der 
Tatsache erinnere, daß damals die im Deutschen Bunde vereinigten Re- 
gierungen sich, mit Ausnahme der preußischen Regierung, der Flotte gegen- 
über ablehnend verhielten, so darf ich behaupten, daß das Drängen nach 
einer deutschen Flotte recht eigentlich aus dem Deutschen Volke hervor- 
gegangen ist. Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zeigt, daß der 
Ruf nach einer Flotte stets dann hervorgetreten ist, wenn sich das 
Streben nach einheitlicher Gestaltung Deutschlands geltend machte oder 
wenn diese ihrer Verwirklichung entgegenging oder entgegenzugehen schien. 
Es gab ja eine Zeit, wo uns der Gedanke an eine deutsche Flotte 
fern lag. Es war die Zeit des Bundestags. Damals lebten wir still 
und harmlos. Wir hatten materiell befriedigende Zustände, wenig Schulden, 
verhältnismäßig wenig Steuern, wir hatten keine Agrarier, wenn es auch 
den Grundbesitzern, besonders in den zwanziger Jahren, herzlich schlecht 
ging. Wir hatten keine Sozialdemokraten; vor allem aber keine Sorgen 
der auswärtigen Politik, wenigstens in den Mittel= und Kleinstaaten. 
Diese begnügten sich damit, den Antagonismus zwischen Preußen und 
Oesterreich am Bundestage aufmerksam zu verfolgen und sich der einen 
oder der andern dieser Großmächte je nach Bedürfnis und nach dem 
Gange der Verhältnisse anzuschließen. Im ganzen war es eine Zeit 
kleinstädtischer Beschränktheit und Behaglichkeit. 
Allein dem deutschen Volke genügte das nicht. Die Erinnerung an
	        
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