52 Im Reichstage (1870 bis 1874)
und keine Luft. Glücklicherweise dauerte sie nur bis ½11 Uhr. Also
nur zwei Stunden. Hier wird viel über die Döllingersche Angelegenheit 1)
gesprochen. Anfangs wollten die Mitglieder des Reichstags durchaus etwas
tun, nämlich die Nichtultramontanen. Ich legte aber in einer deshalb
abgehaltenen Versammlung dar, ) daß es sich vor allem für uns darum
handle, in der katholischen Kirche zu bleiben. Solange wir keine Bischöfe,
keinen Klerus, keine Gemeinde, sondern nur eine Anzahl gebildeter Laien
hätten, könnten wir nicht von einer altkatholischen Kirche sprechen. Es
komme darauf an, zu warten, bis der Papst sterbe, dann sei Hoffnung,
daß ein besserer Geist in die katholische Kirche komme. Treten wir aus
der Kirche, was doch die Folge jedes ernsthaften Schrittes sein könne,
so verlöre die katholische Kirche so viel vernünftige Menschen mehr ohne
Nutzen. Machten wir aber eine bloße Demonstration, so täten wir etwas,
was der Reichstagsmitglieder nicht würdig sei. So beschloß man denn,
sich ruhig zu verhalten. Ich glaube nicht, daß die Bewegung große
Resultate herbeiführen wird. Das Interesse an der Person und dem Schick-
sal Döllingers, denn mehr ist es nicht, macht keine Reformation. Ein
Interesse für dogmatische Spitzfindigkeiten existiert nicht mehr. Es gibt
nur Gläubige, die durchaus katholisch bleiben wollen, und die es bleiben
würden, selbst wenn der Papst sich zum Dalai-Lama dekretieren und die
buddhistische Gebetstrommel einführen würde, und Indifferente, die über-
haupt wenig glauben und ihre Vernunft nicht zum Opfer bringen wollen.
Diese letzteren aber werden sich nicht zu einem Kampfe gegen das Dogma
der Unfehlbarkeit begeistern, bei dem sie an allen andern Dogmen festhalten
müßten, die sie schon längst nicht mehr glauben oder von welchen sie
wenigstens nur einen Teil glauben. In dieser Weise wird keine neue Kirche
gebildet, und so wird der ganze Lärm bald verstummen. Hoöchstens wird die
Zahl der Freidenker um einige Tausend vergrößert. Dies wird aber alles sein,
und wenn siebzig Millionen Menschen glauben, kommt es nicht mehr darauf
an, ob sechstausend abfallen. Das macht die Stärke des Jesuitenordens.
In der Zentrumsfraktion ist Ketteler mit Windthorst in Streit geraten.
Ersterer ist abgereist. Man sagt, Ketteler habe Windthorst vorgeworfen,
er mißbrauche die kirchliche Frage zu politischen Zwecken. Windthorst hätte
ihm antworten können, Ketteler mißbrauche die Politik zu kirchlichen Zwecken;
ob er es getan hat, weiß ich nicht. Jedenfalls ist Ketteler fort. Ebenso
sein treuer Schildknappe Löwenstein. Die ganze Fraktion ist ärgerlich, daß
die Allianz mit den Konservativen mißlungen ist. Nun werden wohl im
geheimen neue Pläne ausgebrütet.
1) Am 17. April war über Döllinger die größere Exkommunikation verhängt
worden.
2) Siehe die folgende Aufzeichnung.