60 Im Reichstage (1870 bis 1874)
Nur dann möge man auf den Gedanken der Kreditbewilligung eingehen,
wenn man überhaupt auf das Gesetz keinen Wert lege und es beim alten
lassen wolle. Dies scheint nun aber der Kaiser nicht zu wollen, sondern
er ist der Ansicht, daß ein solches Gesetz nötig sei. Aus der ganzen
Unterredung entnahm ich, daß von einer Mißstimmung des Kaisers gegen
den Reichstag keine Rede ist.
Es waren verschiedene militärische Berühmtheiten bei Tisch. Tresckow,
der vor Belfort kommandiert hat, von der Goltz, der bei Metz eine Brigade
führte, dann General Dannenberg, Rauch u. a. Der Kaiser erzählte von
der Unruhe, in der er vor Ausbruch der Feindseligkeiten gelebt habe,
immer erwartend, daß die Franzosen früher fertig sein würden.
4. Juni.
Den darauffolgenden Tag war die Beratung des Gesetzentwurfs über
die Beihilfe für Ausgewiesene. Patow machte allerlei Ausstellungen am
Gesetz, ebenso Bamberger u. a. Doch Bismarck wollte nichts davon wissen,
daß die Angelegenheit einer Zentralkommission überwiesen werde. Ich
sprach nach der Sitzung noch mit Bismarck, der aber auf seiner Ansicht
beharrte. Ich glaube, er will nicht viel von der ganzen Sache wissen,
möglichst wenig dazu geben und zieht vor, daß das Odium über un-
genügende Unterstützung auf die einzelnen Staaten falle.
In der gestrigen Sitzung über Elsaß-Lothringen kam der Gesetz-
entwurf mit der Modifikation, welche die Kommission vorgeschlagen hatte,
zum Abschluß. Bismarck sprach öfters, aber auffallend mühsam. Als ich
Abends bei der gewöhnlichen Samstagssoiree zu ihm kam, erzählte er mir
und Weber, daß er sehr müde gewesen sei. Er schlafe zehn bis zwölf
Stunden und könne sich doch nicht ausruhen. Nur wenn er einige Flaschen
Bier trinke, beruhigten sich seine Nerven. Um sich Durst zu machen, aß
er große Quantitäten Kaviar. Weber und ich saßen mit ihm eine Zeitlang
an einem kleinen Tisch, wo er uns die Gründe auseinandersetzte, warum
er gegen die Annektierung des Elsaß an Preußen gewesen sei. Die Elsässer
würden sich eher daran gewöhnen, Deutsche zu werden als prussiens.
Später kam noch ein Herr Hartmann aus dem Elsaß zu uns, der, als
Bismarck wegging, manches Interessante über Versailles erzählte, wo er
eben war. Er sagt, Thiers sei zu sehr befangen in seinen parlamentarischen
Gewohnheiten und habe nicht die nötige Energie zum Handeln. Ueber
die Zukunft befragt, sagte Hartmann, die meiste Aussicht habe der Duc
d'Aumale als Präsident der Republik. Henri V. sei unmöglich. Doch
müsse sich Aumale von dem Einfluß der Klerikalen freihalten. Man
brauche diese allerdings auf dem Lande, in den Städten seien sie aber
verhaßt, und wenn eine Regierung sich unter ihren Einfluß beuge, werde