284 Hauptverhandlung.
schaft bei Beginn der H. vorgeschrieben. „Sodann wird der Angeklagte über die
Anklage und die zu seiner Rechtfertigung gegen dieselbe vorzubringenden Thatsachen
gehört. Der Vertheidiger ist befugt, nachdem der Angeklagte gehört worden, die
Auslassung desselben in Bezug auf die Thatsachen zu vervollständigen. Dem Vor-
sitzenden steht das Recht zu, behufs Aufklärung des Inhaltes und Zweckes der An-
gaben des Angeklagten die ihm geeignet scheinenden Fragen an denselben zu richten.“
Nach den Protokollen der Reichstagskommission scheint bei Berathung dieses Para-
graphen alles Interesse sich auf die Frage der Art der Entwickelung der Anklage
konzentrirt zu haben, und die bei Vergleichung des Tertes des Gesetzes mit dem
Entwurf sich zeigende Aenderung lediglich aus dem Gesichtspunkte hervorgegangen zu
sein, daß die in letzterem beabsichtigte Herstellung des Gleichgewichtes auf dem ent-
gegengesetzten Wege, indem man nämlich weder Anklage noch Vertheidigung vor
dem Beweisverfahren zu Worte kommen läßt, herbeigeführt werde. Ueber das
Verhör als solches sind Erörterungen nicht verzeichnet. Maßgebend für dessen Geist
bleibt also die Stelle in den Regierungsmotiven, welche auf den schon für die Vor-
untersuchung vorgezeichneten Zweck der Vernehmung des Angeschuldigten verweist:
„sie soll ihm Gelegenheit zur Rechtfertigung und Beseitigung der gegen ihn vor-
liegenden Verdachtsgründe geben“. Diese Verweisung auf § 136 der Straf O.,
wo sich die gleiche Bestimmung mit der Variante „und zur Geltendmachung der
zu seinen Gunsten sprechenden Thatsachen“ findet, ist in das Gesetz (§ 242, Abf. 3)
übergegangen.
Aus dem Allen muß die Folgerung gezogen werden, daß die beiden Gesetze in
wesentlicher Uebereinstimmung — die Hauptdifferenz beruht darin, daß die Oesterr.
Straf PO. die Verweisung auf die Vernehmung in der Voruntersuchung mit Bedacht
vermied, der letzteren aber auch einen mehr ingquisitorischen Charakter beließ, das
Deutsche Gesetz ihm schon dort entgegen tritt und dann die gleiche Bestimmung auf
die H. überträgt — dem Verhör des Angeklagten in der H. eine neue, dem Grund-
prinzip des Verfahrens entsprechende Haltung vorzeichnen wollten. So wenig als das
Englische Verbot der Vernehmung des Angeklagten Eingang fand, so wenig bieten
die Gesetze einen positiven Anhalt für die Fortsetzung der früher geübten Inguirir=
methode. Hier muß nun die wissenschaftliche Behandlung ansetzen und verlangen,
daß der Raum, welcher der freien Bewegung des Vorsitzenden offen gelassen ist, im
Sinne des Gesetzes und den Anforderungen des Prozeßfystems gemäß ausge-
füllt werde.
In diesem Sinne stimmt das Verhör des Angeklagten am Beginn der H. wol
im letzten Zweck, nicht aber bezüglich der unmittelbar zu lösenden Aufgabe mit dem
in der Voruntersuchung überein. Es muß hier vorausgesetzt werden, daß der An-
geklagte im Allgemeinen weiß, was gegen ihn vorliege und daß er sich für sein
Verhalten einen Plan gebildet habe, und es handelt sich in erster Linie darum, daß
er diesen Plan darlege, damit bei dem weiteren Verfahren darauf Rücksicht genommen
werde. Es können sich dabei hauptsächlich folgende Varianten ergeben:
1) Der Angeklagte legt ein Geständniß ab, sei es ein wiederholtes
oder ein unerwartetes. In beiden Fällen ist nach unseren Prozeßgrundsätzen damit
kein Urtheilssurrogat, nur ein allerdings meist entscheidendes Beweismittel gegeben.
Der Vorsitzende muß sich gegenwärtig halten, daß die Urtheiler zu einem Schuld-
spruch nur schreiten können, wenn das Geständniß sie überzeugt und daher die Ver-
nehmung so einrichten, daß sie zu einer Erprobung der Freiheit, Ernstlichkeit und
inneren Standhaftigkeit des Geständnisses führe und daß die Möglichkeit einer Be-
stätigung durch von der Aussage des Angeklagten unabhängige Beweismomente ge-
wonnen werde.
2) Der Angeklagte erklärt sich nicht schuldig, zeigt sich aber geneigt, aus-
einanderzusetzen, wie sich nach seiner Behauptung die Sache zugetragen habe. Hier
wird ihm jedenfalls möglichste Freiheit zu zusammenhängender Erzählung gegeben