Full text: Rechtslexikon. Zweiter Band. Gad - Otto. (2.2)

Impfwesen und Impfzwang. 357 
impfgesetz nebst den bezüglichen Ausführungsbestimmungen 2c., Berlin 1875.) Eine 
allgemeingültige technische Instruktion für die Impfärzte besteht in Deutschland bis 
jetzt nicht, und haben in dieser Hinsicht die älteren Vorschriften in den einzelnen 
Bundesstaaten ihre Gültigkeit bewahrt. Dagegen ist die statistische Berichterstattung 
über die vorgenommenen Impfungen für ganz Deutschland gleichmäßig geordnet und 
erstreckt sich alljährlich auf folgende Punkte: 
1) die Zahl sämmtlicher Impfpflichtigen sowie die Zahl der vorge- 
nommenen Impfungen und Wiederimpfungen; 
2) die Zahl derjenigen Impfpflichtigen, bei welchen die Impfung aus gesetz- 
lichen — ärztlich anerkannten — Gründen unterblieben ist; 
3) die Zahl derjenigen Impfpflichtigen, welche sich in ungesetzlicher Weise 
der Impfung entzogen haben; 
4) die Zahl der erfolgreichen Impfungen und Wiederimpfungen, beide ge- 
trennt je nach Benutzung humanifirter oder animaler Lymphe, sowie je nach 
stattgehabter direkter Impfung von Arm zu Arm oder indirekter mittels kon- 
servirter Lymphe. 
Diese Daten im Verein mit einer genauen Berichterstattung über alle vor- 
gekommenen Erkrankungs= und Todesfälle an echten Blattern unter jedesmaliger 
Angabe, ob und vor wie langer Zeit die Betroffenen geimpft waren, bilden die Grund- 
lage zu allen weiteren Forschungen über den Schutzwerth der Impfungen im All- 
gemeinen sowol wie der verschiedenen dabei in Betracht kommenden Methoden. Die 
bezüglichen Zusammenstellungen werden daher von sämmtlichen Deutschen Bundes- 
staaten alljährlich dem Reichskanzler eingesandt und von diesem an das Kaiserliche 
Gesundheitsamt überwiesen zur vergleichenden Prüfung und technischen Berichterstattung 
über die Ergebnisse des Impfgeschäftes im gesammten Deutschen Reiche. Aehnlich 
ist die Organisation der Impfstatistik in England, Schweden, Dänemark, der Schweiz 
und Italien, während sie in den meisten übrigen Ländern Europa's noch nicht in 
einer Weise geordnet ist, welche die Gewinnung brauchbarer Vergleichsresultate er- 
möglicht. 
Zu ungleich bedeutsameren Schwierigkeiten und Kämpfen als die bisher be- 
sprochene organisatorische Seite des Impfwesens hat die gesetzliche Seite 
desselben geführt, die Frage des Impfzwanges. Die im Eingange Dieses erwähnte 
Aufgabe der Staatsbehörden, durch geeignete Einwirkungemittel die Bevölkerung zur 
bereitwilligen Entgegennnahme des gewährten Schutzmittels zu bewegen, hat man 
anfangs in allen, und bis heute noch in vielen Kulturstaaten auf dem Wege der 
Belehrung und Ermahnung, sowie vermittelst eines indirekten Druckes zu lösen ge- 
sucht, indem man die Gewährung anderer staatlicher Wohlthaten, des Schulunter- 
richtes, der Zulassung zu öffentlichen Anstalten, zu Anstellungen, zum Genusse von 
Armenunterstützung u. dgl. m. von dem vorherigen Nachweise erfolgreicher Impfung 
abhängig machte. So wirksam diese Mittel im Verein mit möglichster Erleichterung 
der Impfungen, namentlich durch Vermehrung der Impfstationen auf dem Lande, sich 
erweisen mochten, so waren dieselben doch nirgendwo genügend, um die Impfung zu 
einer ganz allgemeinen Maßregel zu machen. Ohne den Charakter der All- 
gemeinheit aber konnte die Maßregel ihren Zweck einer beruhigenden Sicherstellung 
gegen die Verbreitung von Pockenepidemien nicht erfüllen, da ein auch nur sehr ge- 
ringer Prozenttheil ungeimpfter Individuen in der Bevölkerung hinreicht, um im 
vorkommenden Falle die Infektion weiter zu verbreiten. Schon in den beiden ersten 
Dezennien dieses Jahrhunderts gingen daher die Skandinavischen Staaten sowie in 
Deutschland zuerst Bayern dazu über, die Vornahme der Impfung bei Kindern zur 
gesetzlichen Vorschrift zu machen, und den Widerstand gegen die den Ortsbehörden 
aufgetragene Ausführung dieser Vorschrift mit Geld-, eventuell Gefängnißstrafen zu 
belegen. In England wurde dieser gesetzliche Impfzwang im Jahre 1867, in Deutschland 
von Reichswegen im Jahre 1874 eingeführt; in Frankreich und Italien sowie in der
	        
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