358 Impfwesen und Impfzwang.
Schweiz liegen augenblicklich (Ende 1880) Gesetzentwürfe vor, welche die Einführung
der gleichen Maßregel bezwecken. Andererseits hat sich gegen die letztere sowol in dem
Bereiche ihrer bisherigen Einführung wie auch in den letztgenannten Ländern, welche
ihrer Einführung erst entgegensehen, eine sehr lebhafte Opposition erhoben, welche
den gesetzlichen Impfzwang für unverträglich mit den Rücksichten der Religion, der
bürgerlichen Freiheit und des individuellen Gesundheitsschutzes erklärt. Religiöse
Bedenken haben der Antiimpfbewegung namentlich in England zur Nahrung gedient,
indem man die systematische Modifizirung der Menschenkreatur durch einen prophy-
laktischen Giftstoff als einen frevelhaften Eingriff in die Wege der göttlichen Vor-
sehung verdammte. Eines größeren Beifallskreises als dieses keiner ernsten Wider-
legung bedürfende Argument erfreut sich der Oinweis auf die in dem Impfzwang
liegende angebliche Verletzung der persönlichen bürgerlichen Freiheit. Es wird als
eine Ungehenerlichkeit dargestellt, daß Jemand gezwungen werden solle, sich selbst oder
sein Kind einer unnatürlichen Schutzmaßregel zu unterziehen, von deren Nutzen er
nicht überzeugt sei und welche unter Umständen bei dem Einzelnen nachweislich
Schaden anstiften könne. Dieser Einwand würde seine volle Berechtigung haben,
wenn er einer Maßregel gälte, welche nur zum jedesmaligen Schutz des betreffenden
Individuums selbst bestimmt wäre. Da aber jedes ungeimpft bleibende Individuum
nicht blos für seine eigene Person gefährdet ist, sondern auch eine Quelle der Gefährdung
für die ganze Umgebung bildet, mithin gemeingefährlich wird, so treten die unter
allen Umständen maßgebenden Rücksichten des Gemeinwohls in den Vordergrund, gegen
welche das Belieben des Einzelnen und selbsteine demselben unterausnahms-
weisen Umständen möglicherweise bereitete Gefährdung nicht in die
Wagschale fallen dürfen. Die civilisirte Gesellschaft ist genöthigt, mannigfache gesetzliche
Anforderungen an das Individuum zu stellen, deren Erfüllung unter Umständen mit
Gefährdung seines gesundheitlichen Interesse verbunden ist. Der obligatorische Schul-
besuch wird manchen Kindern zum Anlasse gefährlicher Erkrankungen; die Erfüllung
der Militärdienstpflicht fordert nicht blos im Kriege, sondern auch im Frieden zahl-
reiche Opfer an Gesundheit und Leben; selbst Einrichtungen, welche zum Schutze der
allgemeinen Gesundheit getroffen werden, wie z. B. die Kanalisation der Städte, deren
Mitbenutzung jedem Hausbesitzer und Hausbewohner zwangsweise auferlegt wird,
können unter gewissen Umständen, wie z. B. die Kanalisation bei vernachlässigter
Ventilation der Seele, zur Quelle ernster Gesundheitsbeschädigung und Lebensgefährdung
werden. Entscheidend kann gegenüber solchen Kehrfeiten, von denen keine menschliche
Einrichtung ganz frei ist, nur die Untersuchung sein, auf welcher Seite die Wagschale
tiefer sinke. — oder vielmehr ob das Maß accidenteller Gefährdungen ein so be-
deutendes sei, daß es überhaupt gegen die Bedeutung des gegenüberstehenden Gemein-
zweckes in die Wagschale fallen dürfe. Und diese Untersuchung, so oft und
so sorgfältig sie von sachverständiger Seite angestellt und weitergeführt worden ist,
hat immer wieder zu der Ueberzeugung geführt, daß hier einem allgemeinen Schutz-
mittel von ganz unentbehrlicher Bedeutung eine äußerst geringe Anzahl ungünstiger
Vorkommnisse gegenübersteht, welche fast ausschließlich auf Fehler in der Ausführung
zurückzuführen und daher bei sorgfältigerer Kontrole in Zukunft vermeidbar sind
Die Menschenblattern waren bis zur Einführung der Impfung die verheerendste allei
ansteckenden Krankheiten, verheerender in ihrer Gesammtwirkung als Pest und Cho-
lera zusammengenommen, verheerend nicht blos durch die Zahl der Todesfälle, son
dern auch durch die bei den Ueberlebenden zurückbleibenden dauernden Entstellunger
und Erblindungen. Die üblen Zufälle dagegen, welche als Folge des Impfen-
konstatirt sind, stellen nach Zeit und Ort durchaus vereinzelte Ereignisse dar, derer
Häufigkeitsverhältniß sich auf kaum ein Milliontheil sämmtlicher Impfungen beziffert
Bei solcher Sachlage gilt es nicht, die in ihrer Zweckerfüllung wohlbewährte Schutz
maßregel in Frage zu stellen, sondern nur durch verbesserte Kontrole und wen
möglich durch verbesserte Methode ihre Ausführung so viel wie möglich von der