62 Gemeindebürgerrecht, Gemeindeverfassung.
IV. Die rechtliche Bedeutung der Gemeinde wird durch das ihr zu-
stehende Recht eigener Persönlichkeit bedingt. Die Gemeindepersönlichkeit darf nicht
als eine bloße Abzweigung der Staatspersönlichkeit betrachtet werden. Sie ent-
stammt vielmehr dem selbständigen organischen Leben des von ihr beherrschten
Kreises, wie ja auch historisch die Gemeinden großentheils älter sind als der Staat.
Die Verbindung der Gemeinden indeß mit dem Staatsorganismus ist eine so innige,
daß es staatlicher Genehmigung und nach manchen Gemeindeordnungen (Baden,
Braunschweig) sogar eines Aktes der gesetzgebenden Gewalt bedarf, damit eine
Gemeinde nen gebildet oder eine bestehende aufgelöst werde. In ähnlicher Weise ist
während ihres gangen Bestandes die Gemeinde in der Bethätigung ihres korporativen
Lebens zwar Zunächst auf ihren eigenen Willensentschluß angewiesen, sie unterliegt
aber einer staatlichen Oberaufsicht. In dieser Beziehung haben die meisten
geltenden Gemeindeordnungen den Uebergang von der alten Bevormundung zu einer
bloßen Aufsicht noch keineswegs vollständig vollzogen. Namentlich wird in der
Regel bei den wichtigsten Gemeindebeschlüssen die Zustimmung der Staatsbehörden
verlangt, und es wird den letzteren überdies das Recht gegeben, durch die Sistirung
der nach ihrer Meinung gemeingefährlichen Beschlüsse oder durch sonstige vorbeugende
Maßregeln in das innerste Gemeindeleben einzugreifen. In neuerer Zeit indeß be-
ginnt man mehr und mehr, die Staatsaussicht prinzipiell darauf zu beschränken,
„daß die Gemeinde ihren Wirkungskreis nicht überschreite und nicht gegen die be-
stehenden Gesetze vorgehe“ (Oesterr. Gemeindeordn.); und man beginnt bei Durch-
führung dieser Aufsicht das Präventivsfystem durch repressive Maßregeln zu ersetzen.
Eine Schwierigkeit entsteht hierbei dadurch, daß offenbar der so überaus ungleiche
Umfang der Gemeinden auch ein ungleiches Maß der Aufsicht bedingt. Man hat
hier zunächst durch die Bildung der Sammtgemeinden, dann aber vor Allem dadurch
geholfen, daß man einen Theil der Staatsaussicht über die kleineren Gemeinden an
die Amts-, Bezirks= oder Kreiskörperschaften übertragen hat. Die einzelnen Rechte,
welche innerhalb dieser Schranken der Gemeinde zusteher, sind theils politischer,
theils privatrechtlicher Art. Denn die Gemeinde ist nicht etwa blos juristische Person
des Privatrechts, sondern zugleich eine dem Staat analoge publizistische Persönlichkeit,
ein nach außen und innen selbständiges, wenn auch nicht souveränes, Gemeinwesen.
Daß die öffentlich-rechtlichen Fragen zwischen der Gemeinde in ihren Gliedern, dem
Staat oder Dritten nach der bestehenden Gesetzgebung als Verwaltungssachen be-
handelt und im Wege der Beschwerde bei den höheren Staatsverwaltungsstellen er-
ledigt werden, ist nur die spezielle Anwendung eines allgemeinen Prinzips, das die
Schutzlosigkeit des öffentlichen Rechts statuirt und erst mit dem Ausbau eines wirk-
lichen Rechtsstaates verschwinden wird. In gewissem Umfange hat hier in neuester
Zeit die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit Abhülfe geschaffen. Unter den
einzelnen Funktionen des Gemeindelebens treten die Autonomie und die Selbst-
gerichtsbarkeit heute sehr zurück. Die Autonomie wird den Gemeinden nur in
geringem Umfange zugestanden, indem ihnen die Regelung gewisser Angelegenheiten
durch ein der Bestätigung bedürftiges Ortsstatut überlassen wird (vgl. diesen
Art.). Eine eigentliche Gemeindegerichtsbarkeit wird durch den Satz des § 15 des
RGVG.: „Die Gerichte sind Staatsgerichte“ ausgeschlossen; doch sind durch § 14
des RGVG. Gemeindegerichte mit beschränkter Kompetenz (über vermögensrecht-
liche Ansprüche bis zu 60 Mark unter Vorbehalt des ordentlichen Rechts-
weges und unter Einschränkung auf Streitigkeiten unter Gemeindeeinwohnern) als
besondere Gerichte zugelassen; solche Gemeindegerichte bestehen in Württemberg und
Baden. Eine eigentliche Selbständigkeit kann somit die Gemeinde nur in dem Ge-
biete der Verwaltung vermöge der ihr fast überall zugestandenen Selbstverwaltung
entfalten. Sie bethätigt dieselbe gleich anderen Korporationen durch die für alle
ihre Glieder bindenden Gemeindebeschlüsse, durch die freie Wahl ihrer Organe, durch
die Aufnahme und Ausschließung von Mitgliedern und durch die einzelnen Ver-