Ordnungs= und Disziplinarstrafen. 969
1) Die Fälle der staatlich nur anerkannten, wenngleich vielleicht durch
Bestimmung ihres Inhaltes und durch Bestrafung ihrer Ueberschreitung geregelten Dis-
ziplinargewalt sind, entsprechend der Mannigfaltigkeit der ihrem Schutze unterstehenden
Interessen, so reich an Zahl und Erscheinungsformen, daß eine Uebersicht unmöglich
ist. Wissenschaftliche Untersuchung, die sehr dankbar wäre, fehlt bisher. In diese
Klasse gehört das Züchtigungsrecht des Hausvaters, des Ehegatten (wenn
ein solches besteht: vgl. Windscheid, § 490 Note 11; Bayr. Kassat. Entsch. vom
17. April 1875; Oesterr. Kassat. Entsch vom 3. Dez. 1877 Nr. 167 der Samm-
lung), des Schullehrers (vgl. Erk. des Reichsgerichts vom 14. April 1880;
Rechtspr. I. S. 593, Entsch. II. S. 10), des Lehrherrn und der ihn vertretenden
Gesellen und Gehülfen (RGew.O. § 127); die Disziplinarstrafgewalt des Dienst-
herrn (pvgl. Reichsgerichts-Erk. vom 12. April 1880; Rechtspr. I. S. 573, Entsch. II.
S. 7), des Schiffers gegenüber der Schiffsmannschaft (Seemannsordn. vom 27. Dez.
1872, §§ 72 ff.) u. s. w. Es gehört hierher das Strafrecht, welches die verschiedensten
Individuengruppen gegen ihre Mitglieder ausüben; von den unbedeutendsten
geselligen Vereinigungen angefangen bis zu den großen politischen Ver-
tretungskörpern (vgl. den Art. Geschäftsordnung); von dem Börsen-
vorstand bis zu den Universitätsbehörden (soweit diese als autonome und
nicht als staatliche Organe fungiren); von den Häufern der regierenden
Fürsten (hausgesetzliche Strafgewalt des Familienhauptes) bis zu den herrschenden
Religionsgesellschaften. Je umfassender und tiefgreifender der Wirkungskreis
einer solchen Individuengruppe, desto schärfer muß die staatliche Ueberwachung des
Disziplinarstrafrechtes derselben sein; die partikularrechtliche Beschränkung (Preuß.
Gesetz vom 12. u. 13. Mai 1873; Bad. Gesetz vom 14. Febr. 1874; Hess. Gesetz
vom 23. April 1876; Sächs. Gesetz vom 23. Aug. 1876) der kirchlichen Disziplinar-
gewalt kann als Beispiel dienen (vgl. die Art. Cenfuren, Kirchenbann,
Kirchenzucht).
2) Das vom Staate übernommene Disziplinarrecht. Auch hier tritt eine
überraschende Fülle von Einzelerscheinungen bei genauer Betrachtung zu Tage; reichs-
rechtliche und partikularrechtliche Satzungen beherrschen nebeneinander das Gebiet.
Wenn einerseits die D. in den Strafanstalten (ovgl. Ekert in v. Holtzen-
dorff's Handbuch des Strafrechts Bd. IV. S. 200) der früher besprochenen Gruppe
am nächsten steht, nimmt andererseits die D. gegen Beamte die höchste Stufe
innerhalb der zweiten Gruppe ein (reichsrechtlich geregelt durch Gesetz vom 31. März
1873, betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten. 1) O.: a) Warnung,
b) Verweis, c) Geldstrafe bei besoldeten Beamten bis zum Betrage des einmonat-
lichen Diensteinkommens, bei unbesoldeten bis zu 90 Mark. 2) Entfernung aus
dem Amte: a) Strafversetzung, b) Dienstentlassung). Ihre innere Natur ist kon-
trovers. Die herrschende kriminalistische Ansicht (begründet von Heffter), der sich von
den Staatsrechtslehrern neuerdings Meyer und Zorn angeschlossen haben, leugnet
die prinzipielle Verschiedenheit zwischen den Disziplinarvergehen und den öffentlich
strafbaren Vergehen im Amte, daher auch zwischen D. und krimineller Strafe.
Eine eigenthümliche Mittelstellung nehmen H. Meyer (Lehrbuch des Strafrechts)
und Schütze (s. d. Art. Amtsverbrechen) ein. Ersterer formulirt auf S. 2 einen
prinzipiellen Unterschied und erklärt auf S. 695 die Grenzlinie für eine lediglich
positiv-rechtliche; letzterer leugnet die prinzipielle Verschiedenheit, stellt aber Unter-
scheidungsmerkmale auf, welche nicht anders denn als prinzipielle betrachtet werden
können. Die herrschende Ansicht wurde in neuester Zeit angegriffen von Laband und
Binding. Laband (Staatsrecht, I. S. 447 ff.) faßt die D. auf als Mittel die
Erfüllung der Dienstpflicht zu erzwingen, als Aequivalent der Kontraktsklage auf
Leistung. Nach Binding (Grundriß zur Vorlesung über Strafrecht S. 112) ist sie
pädagogisches Zuchtmittel im prinzipiellen Gegensatz zur kriminellen Strafe, die
Sühne des Bruchs der Rechtsordnung ist. — Nach dem oben Gesagten kann keiner