Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

306 Rechtsvermuthungen. 
erscheinen sie in ihrer Verwendung im Prozeß und als Voraussetzungen des 
Urtheils in der Gestalt von Annahmen gewisser Thatsachen ohne genügenden Beweis, 
mithin, da es das Recht selbst ist, das sie als solche erscheinen läßt, und wie 
übrigens auch Burckhard im Grunde zugiebt, als R. 
Um es mit einem Worte zu sagen: das Wesen der R. liegt allein in der 
bezeichneten Funktion derselben. Der Unterschied aber zwischen den „Beweislast- 
präsumtionen“ und „Rechtsinhaltspräsumtionen“ einerseits und R., wie beispiels- 
weise den Sätzen: pater est, quem nuptiae demonstrant — der Verschollene ist als 
todt zu vermuthen, sofern seit seiner Geburt 70 Jahre verflossen sind — wenn Tod- 
feindschaft zwischen Erblasser und Legatar ausgebrochen, soll das Vermächtniß als 
adimirt gelten — u. s. w. andererseits, besteht in der Hauptsache nur darin, daß 
die ersteren sozusagen blos gelegentliche, d. h. in gewissen Rechtssätzen implicite 
enthaltene, aber nur unter einem bestimmten Gesichtspunkte hervortretende R. sind, die 
letzteren dagegen ausschließliche, in durchaus selbständigen Rechtssätzen formulirte. 
Aus diesem Hauptunterschiede ergiebt sich von selbst eine Verschiedenartigkeit der 
Wirkung. Da die in den allgemeinen Regeln über die Beweislast des Beklagten 
implicite enthaltenen Präsumtionen zu Gunsten des Klägers als solche erst wirksam 
werden, wenn die dem Beklagten zugewiesene Beweisführung unterblieben oder miß- 
glückt ist, so versteht sich von selbst, daß, streng genommen, niemals von einem pro- 
zessualischen „Gegenbeweise“ wider diese Vermuthungen, sondern nur von einem Be- 
weise des Gegentheils gesprochen werden kann; woraus weiter folgt, daß nach diesem 
Beweise des Beklagten (der als ein Hauptbeweis anzusehen) dem Kläger noch der 
Gegenbeweis zusteht. Und dasselbe muß nothwendig gelten, wo die Behauptung 
des Beklagten, daß ein Dispositivgesetz, das in seinen Konsequenzen eventuell eine 
Vermuthung für den Kläger begründen würde, in concreto durch ausdrückliche wider- 
sprechende, für die Parteien rechtsverbindliche Festsetzungen ausgeschlossen sei, als eine 
Einrede im weiteren Sinne zu betrachten und der darüber zu führende Beweis dem- 
nach ebenfalls ein Hauptbeweis ist, — wie dies nach dem früheren Gemeinen Rechte 
wol unbestritten der Fall war. Auf der anderen Seite ist klar: ein Rechtssatz, der 
ausschließlich eine R. darstellt, und zwar in Bezug auf einzelne bestimmte 
Umstände, — denn andere ausschließliche R. giebt es in der That nicht — ein 
solcher Rechtssatz kann immer nur seine Rolle spielen in dem Zusammenhange einer 
Beweisführung, die zum mindesten die Bedingungen als vorhanden zu konstatiren 
hat, von denen die Anwendung jenes Rechtssatzes abhängt. Ist es nun der Kläger, 
der die betreffende Vermuthung für sich anführt, so ist hierauf nur noch ein wahrer 
Gegenbeweis seitens des Beklagten denkbar, der nach bisherigem Gemeinen Recht eine 
nochmalige Beweisführung des anderen Theiles ausschließt. Spricht umgekehrt die 
Vermuthung für den Beklagten, so kommt es darauf an, ob sie sich schon aus der 
Klage selbst ergiebt oder erst aus einer Einrede des Beklagten. In jenem Falle 
muß der Gegenbeweis seitens des Klägers antizipirt werden, in diesem gehört der 
Gegenbeweis wider die Vermuthung zum Gegenbeweise wider den Einredebeweis. 
Uebrigens ist leicht zu sehen, daß auch der zuletzt besprochene praktische Unterschied 
zwischen „ausschließlichen“ und „gelegentlichen“ R. für unser heutiges Deutsches 
Recht hinwegfällt, nachdem dasselbe in der Deutschen CPO. das sog. Prinzip der 
Beweisverbindung sanktionirt hat, wonach von einer scharfen Scheidung 
zwischen Hauptbeweis und Gegenbeweis nicht mehr die Rede sein kann, wie denn 
auch die CPO. sogar den letzteren Ausdruck geflissentlich vermieden hat. 
Ein System der ausschließlichen R. giebt es so wenig, wie ein System der 
„Rechtsinhaltspräsumtionen“; selbst die sog. Willenspräsumtionen machen hiervon 
nur eine scheinbare Ausnahme. Was einer gewissen Willensäußerung in Worten 
oder Thaten als wirklicher Willensinhalt zu Grunde liegt, ist natürlich zunächst 
gerade so gut eine Sache des Beweises, wie irgend etwas Aeußerliches. Nur wird 
bezüglich einer solchen psychologischen Thatsache ein voller Beweis noch viel seltener
	        
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