Rückwirkung. 499
auf Grund des ältern Rechts geltend gemacht werden. Noch viel weniger wird die
Frage über die vormalige Entstehung, Aenderung oder Aufhebung solcher Rechte
durch das neue Gesetz betroffen. Allgemein gefaßt: die R. im zweiten Umfang
unterstellt in Ansehung der unter der Herrschaft des bisherigen Rechts entstandenen
Rechtsverhältnisse nur die künftige Erzeugung rechtlicher Wirkungen sowie die künftigen
auf Aenderung oder Aufhebung zielenden Thatsachen dem Einfluß des neuen Gesetzes
und läßt abgeschlossene juristische Thatsachen (facta braeterite unberührt. Nicht
ohne Grund wurde bezweifelt, ob hier überhaupt noch von R. gesprochen werden
dürfe (Scheurl). Der herrschende Sprachgebrauch ist dafür. Eine große Rolle
hat in unserer Lehre von jeher der Begriff der erworbenen oder wohlerworbenen
Rechte gespielt. Derselbe entbehrt aber (trotz Lassalle) der erforderlichen Bestimmt-
heit, um in praktischen Regeln Verwerthung zu finden. Freilich bedarf auch näherer
Beschreibung, was unter einer abgeschlossenen juristischen Thatsache zu verstehen sei.
Ein genaueres Eingehen verbietet hier der Raum. Nur soviel sei bemerkt, daß unter
diesen Begriff weder bloße rechtliche Möglichkeiten und Erwartungen fallen (z. B
eine in Aussicht stehende Beerbung bei Lebzeiten des Erblassers, das Konkursprivileg
einer Forderung vor Ausbruch des Konkurses), noch die rechtlichen Eigenschaften der
Personen (Rechts-, Handlungs-, Verpflichtungs-, Wechsel-, Verbürgungsfähigkeit u. s. w.).
Ein unfehlbarer Schlüssel ist übrigens auch damit nicht gewonnen. So widerstrebt
z. B. unserm Rechtsgefühl, daß durch ein Gesetz, welches den Termin der Mündig-
keit oder Großjährigkeit, der thatsächlichen Vorbedingung für einen höheren Grad
der Handlungsfähigleit, gegenüber dem bisherigen Recht hinausschiebt, die nach diesem
Recht bereits mündig oder großjährig Gewordenen wieder in den Zustand der Un-
mündigkeit oder Minderjährigkeit versetzt werden, wenn sie das vom neuen Gesetz
geforderte höhere Lebensalter noch nicht erreicht haben. Und doch würde dazu eine
folgerichtige Anwendung der Regel führen. Daß sich aber der Gesetzgeber mit einer
dringenden Forderung der Billigkeit in Widerspruch setzen wollte, ist nicht anzu-
nehmen.
B. Oeffentliches Recht. 1) Auf dem Gebiete des Strafrechts wieder-
holt sich die Erscheinung, daß die mannigfachen Theorien trotz Verschiedenheit der
grundsätzlichen Standpunkte in den praktischen Ergebnissen nicht erheblich von ein-
einander abweichen. Die Einen gehen von dem Satze aus, daß eine Handlung nach
demjenigen Strafgesetz zu beurtheilen ist, welches zur Zeit seiner Begehung das gegen-
wärtige Recht bildete, lassen aber eine Ausnahme für den Fall zu, daß in der Zeit
zwischen der Begehung und der Aburtheilung ein milderes Strafgesetz in Kraft ge-
treten ist. Nach den Anderen darf das neue Strafgesetz vom Tage seiner Wirksam-
keit an allein die Richtschnur für die strafrichterliche Thätigkeit bilden; jedoch werden
auch hiervon Ausnahmen anerkannt, bald allgemein, wenn das ältere Gesetz dem
Angeschuldigten günstiger ist, bald nur in dem Fall, wenn die Handlung nach dem
Gesetz zur Zeit ihrer Begehung straflos war, nach dem neuen Gesetz aber strafbar
ist. Der zweite Standpunkt wurde am besten damit begründet, daß das Strafgesetz
die Strafpflicht des Staates nach Inhalt und Umfang bestimme und eine Instruktion
für den Strafrichter bilde; die auf dem bisherigen Gesetz fußende Strafpflicht er-
lösche mit dem Tage, wo dieses Gesetz von dem neuen entkräftet werde, eine neue
trete an ihre Stelle (Binding). Hiermit wird jedoch die relative Natur der
Strafpflicht und der Strafbefehle verkannt. Das Strafgesetz steht — wenigstens ist
davon auszugehen — im engen Zusammenhang und im genauen Verhältniß zu dem
gesammten Kulturzustand eines Volkes und zu den Bedürfnissen des jeweiligen
Gemeinlebens. Eine Handlung wird für straflos, eine andere für strafbar, und zwar
in dem bestimmten Maße strafbar erklärt mit Rücksicht auf die gegenwärtigen gesell-
schaftlichen, sittlichen, politischen, religiösen, wirthschaftlichen Verhältnisse. Nur weil
die Handlung unter diesen Umständen ins Leben getreten ist und in diese Verhält-
nisse eingreift, belegt sie das Gesetz mit Strafe und mit dieser Strafe. Indem der
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