Schulzwang. 617
die Wohlthat der Volksschule bedingen die Staatsleitung in erhöhtem Maße, und
daneben ein Recht der Kirchengewalten, nicht zur unmittelbaren „Mitleitung“ der
Schule, wol aber zur Kenntnißnahme, Fürsorge und Abwehr, daß das wirkliche
Bekenntniß der Kirche in der Schule gelehrt und nichts diesem Bekenntniß Feind-
seliges in der Schulordnung Platz finde.
3) Der S. gilt nur ergänzend. Er reservirt der Familie das Recht, ihn
jeder Zeit zu ersetzen durch einen gleich guten, in der Regel freilich theureren,
Privatunterricht. Der S. wahrt auch das absolute Recht der Gewissensfreiheit,
indem er kein Kind zum Religionsunterricht einer ihm fremden Konfession nöthigt.
Es genügt in diesem Punkt auch der Nachweis eines Privatunterrichts in einem
dissentirenden Religionsbekenntniß, dessen „religiöse Substanz“ zu prüfen übrigens
niemals Sache des Staates sein kann.
Mit dieser Begrenzung ist das hartklingende System des S. vom religiösen,
sittlichen, rechtlichen, nationalen, wirthschaftlichen Standpunkt aufrecht zu erhalten.
Sein mächtigster Gegner freilich bleibt die römisch-katholische Kirche. Sie
hält unabänderlich das Recht auf die Lehre der Unmündigen als eine Pflicht ihrer
Glaubensgenossenschaft fest. Sie betrachtet das Recht, „ihre Herde zu weiden“, als
unmittelbar göttlicher Einsetzung. Diesem Anspruch gegenüber hat der Staat das
Recht seiner allgemeineren und damit höheren Gemeinschaft geltend zu machen,
welches auch andere Bekenntnisse zu einer nationalen und sittlichen Gemeinschaft
zusammenfassen und zusammenhalten soll. Er vermag der beanspruchten „Freiheit"“
der Kirche nur die Garantie zu gewähren, daß in der Schule das kirchliche Be-
kenntniß gelehrt und keine der Kirche feindselige Einrichtung geduldet wird. Zur
Behauptung ihrer Herrschaft stellt sich die heutige klerikale Richtung freilich auf den
Standpunkt, daß die Elementarschule „Erziehungsanstalt“ sei, der S. also ein Ein-
griff in das absolute Erziehungsrecht des Vaters. Die Schule ist aber in erster Stelle
Unterrichtsanstalt für Wissen, verbunden mit der Lehre der Religion. Dem
Erziehungswerk des Hauses tritt sie nur ergänzend, aushelfend, fördernd hinzu. Sie
gewährt das, was die isolirte Familie dem Kinde als Regel nicht zu geben vermag.
Sie beschränkt sich grundsätzlich so weit, um die wirklich erziehende Thätigkeit der
Familie nicht zu durchkreuzen und zu hindern. Als ein, immerhin mangelhafter,
Ersatz der Erziehung tritt sie nur ein für die verwahrloste, unsittliche Familie.
Vermag aber die Kirche eine solche Entartung einzelner Glieder nicht zu überwinden,
so sollte sie dem Staat nicht Opposition machen vom Standpunkt einer behaupteten
Souveränetät der Familie gerade für unwürdige Familienhäupter. Ein Recht,
durch das Familienhaupt auf die Erziehung zu wirken, sowie die völlige Freiheit
der Einwirkung auf ihre mündig gewordenen Glieder, wird der Kirche vom Staate
nirgends bestritten. — Auch in England hat der Standpunkt der Staatskirche,
vereint mit den Lebensanschauungen der regierenden Klassen, sich bis in das letzte
Menschenalter gegen den S. gesträubt und erst in der Gesetzgebung seit 1870 sich
dem Deutschen System immer weiter genähert. — In Frankreich hat die Re-
volution mit ungestümer Gewalt den Jugendunterricht als ein Gesammtrecht der
Gesellschaft reklamirt, ist damit aber nur zu einer allbevormundenden Staatsverwal-
tung des Unterrichtswesens gelangt, die zur Behauptung ihres Absolutismus wieder
zu einer Theilung ihrer Herrschaft mit der römisch-katholischen Kirche genöthigt war.
Die geistige Unfreiheit behauptet sich hier unter dem abstrakten Titel einer „Freiheit
der Lehre und des Unterrichts“. In Belgien hat diese Richtung sogar ein grund-
gesetzliches Verbot des S. durchgesetzt. In den größeren konstitutionellen Ländern
ist außer der Herrschaft der Staatskirche auch der überwiegende Einfluß der besitzenden
Klassen auf die Staatsgewalt, welche die soziale Bedeutung des S. für die Erhebung der
arbeitenden Klassen zur „Theilnahme am Staat“ bisher nicht genügend gewürdigt hat.
So erscheint denn Deutschland das Normalland des S. Es ist vorzugsweise
der Deutsche Geist, der die Schule als ein öffentliches Institut entwickelt hat.