Unterlafsungsverbrechen. 935
könne. So richtig dies nun ist, und so gewiß die hieraus gezogene Konsequenz zu
Resultaten führt, die in der Regel gebilligt werden, so gewiß es Jedermann billigt,
daß der nicht als Mörder oder Brandstifter bestraft wird, welcher mit der größten
Leichtigkeit den Tod eines Menschen oder das Ausbrechen eines Brandes hindern
konnte, sich aber (und wären dabei die verwerflichsten Motive maßgebend gewesen)
rein passiv verhielt: so gewiß giebt es andere Fälle, bei welchen scheinbar auch nur
ein solch passives Verhalten vorliegt, oder doch kriminalistisch allein in Betracht
kommt, dennoch aber der juristische Sinn unwiderstehlich zur entgegengesetzten Ent-
scheidung getrieben wird. Niemand wird Bedenken tragen, als Urheber des ein-
getretenen Todes denjenigen zu behandeln, welcher einen Anderen, in der Absicht
ihn zu tödten, einschließt und so verhungern läßt. Aber auch den Gefangenwärter
verurtheilt Jeder unbedenklich als Mörder, der eines Tages den Beschluß faßt und
ausführt, einen bereits unter seinem Verschluß befindlichen Gefangenen verhungern
zu lassen. Alle Welt unterscheidet zwischen dem Spaziergänger, der neben der Eisen-
bahn einhergehend, auf derselben einen Stein liegen sieht und ihn liegen läßt, und
dem Bahnwärter, dem die gleiche Unterlassung zur Last fällt u. s. w. Im Großen
und Ganzen ist über die Entscheidung dieser Fälle alle Welt einig; aber wie so
häufig, ist es leichter eine Alle Welt befriedigende Entscheidung zu finden, als eine
Begründung, welche als stichhaltig erkannt wird und nicht auf der Verleugnung als
richtig feststehender Sätze beruht oder zu unzulässigen Konsequenzen führt. Es ist
nun eine Reihe von Versuchen gemacht worden, diese Begründung aufzustellen, und
zwar zunächst von Luden, Krug und dem Verfasser dieses Artikels. Die
Aufgabe, die letzterem gestellt war, bestand in der Ausbildung der von seinen
genannten Vorläufern gegründeten Theorie; ihnen gebührt in erster Linie das Ver-
dienst; wenn aber andererseits nirgend bestritten wird, was Geßler mit den
Worten ausdrückt: „die der Krug'schen Auffassung noch anklebenden Mängel sind
bei Glaser beseitigt“, so ist es wol nicht unbescheidene Verschweigung der Leistungen
meiner Vorgänger, wenn ich mich auf die Darstellung meiner an ihre Leistungen
anknüpfenden Erklärungsversuche meiner Theorie an diesem Orte beschränke. Diese
Theorie umfaßt zwei Hauptgruppen von Fällen, die hier nur deshalb gesondert werden,
weil in neuester Zeit (namentlich von v. Buri und Binding) der einen derselben die
Eigenschaft als „U.“ bestritten wird. Es sind dies 1) Fälle, wo Jemand ohne
alles Verschulden eine Handlung setzt, welche unzweifelhaft als ausreichende Ursache
eines zum Thatbestande eines Kommissivdeliktes gehörigen Erfolges zu erkennen ist,
sich dieses Zusammenhanges aber zu einer Zeit bewußt wird, wo er noch in der
Lage ist, den Erfolg seines Thuns abzuwenden, und das aus Vorsatz oder Fahr-
lässigkeit (je nachdem es sich um ein doloses oder kulposes Delikt handelt, — denn
ich scheue diese mir von v. Bar vorgehaltene Konsequenz keineswegs) unterläßt: der
Lokomotivführer, der die Maschine, der Reiter, der das Pferd nicht anhält, sowie
er bemerkt, daß ein Mensch überfahren oder überritten zu werden in Gefahr sei;
der Arzt, der eine Operation begonnen hat und den Kranken, in dem er erst nachher
einen Feind entdeckt, sich verbluten läßt. 2) Fälle, wo scheinbar der eintretende
Erfolg gar nicht vom Unterlassenden verursacht und diesem nur zur Last zu legen
ist, daß er den Erfolg abzuwenden unterließ, obgleich er dies konnte: der Bahn-
wärter, der die Schienenweiche nicht richtig stellt, den auf die Bahn gefallenen Stein
nicht beseitigt u. s. w. Für die Zwecke der vorliegenden Erörterung sind nach
meiner Ansicht die Gruppen gleichartig; es muß nur für die zweite Gruppe noch
besonders nachgewiesen werden, was bei der ersten in die Augen springt, daß der
Unterlassende nicht blos unterlassen hat, sondern auch etwas den Erfolg positiv
Förderndes gethan hat. Dieses letztere nachzuweisen, fordert ein hier nicht zu-
lässiges Eingehen auf mannigfache Detailfragen. Es kann daher nur der für deren
Beantwortung meines Erachtens maßgebende Gesichkspunkt hier angedeutet werden: