Urtheil. 985
Die Anklage muß geprüft und erschöpfend geprüft werden, allein diese Prüfung ist
in faktischer wie rechtlicher Hinsicht eine vollkommen freie; die subjektive Auffassung
des Gerichtes, nicht des Verfassers der Anklage, er sei nun, wie nach Oesterr. Recht
ein Staatsanwalt, oder wie nach Deutschem ein Gericht, ist entscheidend. In noch
höherem Grade gilt dies bezüglich der Umstände, welche geeignet sind, dem An-
geklagten zu statten zu kommen; weder das Geständniß, noch ein Zugeständniß des
Angeklagten und noch viel weniger die Nichtbetonung eines Theiles des Beweis-
oder Einredematerials von Seiten der Vertheidigung ändert etwas an dem Recht und
der Pflicht des Gerichtes, seine Entscheidung nach der eigenen Auffassung der ent-
scheidenden thatsächlichen und juristischen Momente einzurichten. Nur in einer
Beziehung zieht dieser Freiheit der faktischen und rechtlichen Würdigung der Ergeb-
nisse der Hauptverhandlung der moderne StrasfPrz. Schranken: er gestattet dem
Richter nicht, dem Verdacht, dem Zweifel als solchem in seinem U. Ausdruck zu
geben. Im Gegensatz zu der Mannigfaltigkeit der Ul.formen im älteren Recht,
welche mit der gesetzlichen Beweistheorie und mit der Ueberspannung des Grund-
satzes, daß im Straf Prz. materielle Wahrheit anzustreben sei, zusammenhing, schreiben
die für Oesterreich und Deutschland geltenden Strafßt O. zwei Ulormen vor,
zwischen welchen das Gericht zu wählen hat. „Das U.“, sagt § 259 der Deutschen
Straf O., „kann nur auf Freisprechung, Verurtheilung“ (oder Einstellung des Ver-
fahrens wegen Mangels oder Wegfalls des erforderlichen Antrages) „lauten“. So
weit diese Alternative die thatsächliche Grundlage der Anklage betrifft, legt sie dem
Gericht die Pflicht auf, freizusprechen, sobald es nicht erachtet, verurtheilen zu können.
Die Oesterr. StrafP O. (56 259 Z. 3) schreibt ausdrücklich vor, es sei der An-
geklagte freizusprechen, „wenn der Gerichtshof erkennt, daß.. der Thatbestand nicht
hergestellt oder nicht erwiesen sei, daß der Angeklagte die ihm zur Last gelegte That
begangen habe.“ Allein das Gebiet des „freisprechenden U.“ ist nicht blos insofern
erweitert, als es auch den oben erwähnten Fall umfaßt, wo der Angeklagte nur
deshalb nicht verurtheilt werden kann, weil er nicht überwiesen ist; der im
älteren Recht vielfach gemachte Versuch, zwischen der Freisprechung wegen Schuld-
losigkeit und wegen anderer Gründe zu unterscheiden, ist überhaupt aufgegeben; und
während naturgemäß das verurtheilende Erkenntniß („Straf-U."“ genannt, sowol
in der Deutschen Strafp O. § 266, als in der Oesterr. § 260) auf dem positiven
Ausspruch beruht, daß der Angeklagte eine bestimmte That begangen habe, kann die
Freisprechung nicht blos auf der Verneinung dieser Thatsache, beziehungsweise auf
der dieser Verneinung gleichstehenden Nichtannahme derselben beruhen, sondern auch
auf einer rechtlichen Beurtheilung, welche ihr den Charakter der strafbaren Handlung
abspricht, oder auf der Annahme selbständiger Thatsachen, welche nach der rechtlichen
Ueberzeugung des Gerichtes die Strafbarkeit ausschließen oder aufheben oder die
Strafverfolgung unzulässig machen. So mannigfaltig demnach die Gründe der
Freisprechung sein können (Mangel des Nachweises der That oder der Thäterschaft,
Annahme selbständiger Thatsachen, welche die Schuld, die Strafe oder die Straf-
verfolgung ausschließen), so ist doch in all diesen Fällen nur die eine Formel der
„Freisprechung“ zulässig. Für das Oesterr. Recht gilt das nach § 259, welcher
die einzelnen Fälle ausdrücklich erwähnt und die Formel verzeichnet: „Der An-
geklagte wird von der Anklage freigesprochen“, unzweifelhaft. Die Deutsche
StrafO. macht die erwähnte ausdrückliche Ausnahme für den Fall der „Einstel-
lung“; auch diese war im Entwurfe nicht vorgesehen, der in solchem Falle einen
„Beschluß", nicht ein U. ergehen lassen wollte. Man sucht aber noch weitere Aus-
nahmen zur Geltung zu bringen, und stützt sich dabei auf folgende Stelle der
Motive: „lUebrigens setzt die Vorschrift des Entwurfes allerdings das voraus, daß
der Fall zu einer Entscheidung in der Sache selbst angethan ist. Wo der
Strafverfolgung blos zur Zeit Hindernisse entgegenstehen, da wird auch das Ul. eben
nur die Unzulässigkeit der Strafverfolgung auszusprechen haben.“ Abgesehen davon,