Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Urtheil. 993 
Die Oesterr. Strafp O. verfügt 8 267: „An die Anträge des Anklägers ist der 
Gerichtshof iur insoweit gebunden, daß er den Angeklagten nicht einer That schuldig 
erklären kann, auf welche die Anklage weder ursprünglich gerichtet, noch während 
der Hauptverhandlung ausgedehnt wurde.“ Beide Gesetze legen hier allerdings den 
Ton auf „That“ (das materielle Faktum) im Gegensatz zu der juristisch beurtheilten 
That, der strafbaren Handlung. Damit ist die Bedeutung der Anklage für den 
heutigen Strafprozeß in Uebereinstimmung mit der Ausführung unter II. gekenn- 
zeichnet: als die Anrufung der richterlichen Prüfung und Entscheidung bezüglich 
eines bestimmten Vorganges eines bestimmten Menschen; allein es muß doch stets 
dieselbe That Gegenstand der Anklage wie der Aburtheilung sein. So unbestreit- 
bar und unbestritten der Satz ist, so schwierig ist seine Durchführung, die Abgrenzung 
zwischen der verschiedenen Beurtheilung derselben und der Substituirung einer 
anderen That. Der scheinbar nächstliegende Gedanke wäre: zwar eine abweichende 
juristische Beurtheilung, aber nicht die Annahme anderer Thatsachen zu gestatten. 
Allein die Anklage hat zwar eine bestimmte That vor Augen, sie kann diese aber 
in prozessualisch verwerthbarer Weise nicht anders als in der Unterordnung unter 
einen bestimmten Deliktsbegriff beschreiben, und so ist die Annahme einer anderen 
Oualifikation im Urtheil gar nicht denkbar, ohne daß auch der Sachverhalt anders 
festgestellt wird, als wie er in der Anklage behauptet wurde. Die einfachste und 
unbedenklichste Modifikation ist dann freilich diejenige, bei welcher nur einzelne, in 
der Anklage behauptete Umstände in Wegfall kommen, gewissermaßen ausgestrichen 
werden. Wollte man aber an dieser Grenze stehen bleiben, so würden zahlreiche, objektiv 
nicht gerechtfertigte Freisprechungen eintreten müssen, blos weil der wahre Sachverhalt 
zur Zeit der Anklage nicht bekannt war, oder auch nur die Auffassung des Gerichtes 
nicht vorhergesehen wurde. Andererseits aber würde, wenn jede solche Abweichung der 
Anklage wegen Mangels der Identität der in ihr bezeichneten und der ins U. aufzu- 
nehmenden That ausgeschlossen wird, eben dieser Mangel der Identität es rechtfertigen, 
daß die Anklage in der Fassung erneuert wird, wie sie das Gericht in seinem U. fest- 
gestellt hätte, wäre ihm das gestattet gewesen. Das würde aber den Angeklagten in 
die Lage bringen, statt eines Prozesses mehrere, in vielleicht unabsehbarer Reihe über 
sich ergehen zu lassen, möglicherweise auch dahin führen, daß das Gericht, welches 
über die erneute Anklage urtheilen soll, wieder von einer anderen Auffassung geleitet 
wird, und so würden endlose Verwickelungen entstehen und es würde die Gefahr 
immer größer, daß Wahrheit und Recht einer bloßen Form zum Opfer fielen. 
Eben darum darf man die Frage nach der Identität des Gegenstandes der Anklage 
und des Urtheils nicht nach anderen als den Gesichtspunkten beurtheilen, welche aus 
der zu lösenden prozessualen Aufgabe sich ergeben. So aufgefaßt, hat das U. die 
den Gegenstand der Anklage bildende That einer erschöpfenden Prüfung zu unter- 
stellen, aber auch einer endgültigen, jeden aus ihr irgend abzuleitenden strafrechtlichen 
Anspruch konfumirenden. Ohne in Einzelheiten eingehen zu können, welche sonst in 
sehr großem Umfange erörtert werden müßten, glaube ich folgende Grundregeln auf- 
stellen zu können: 1) Der Richter hat alle ihm durch die Anklage vorgelegten That- 
umstände, sie seien nun ausdrücklich erwähnt oder unausgedrückt von der Anklage 
ihrem Sinne nach mit umfaßt, nach Bestand und rechtlicher Bedeutung zu prüfen; 
keinen dieser Umstände darf das Urtheil als möglichen Bestandtheil oder ausschließ- 
lichen Gegenstand einer neuen Anklage unerledigt zurücklassen. 2) Er hat aber 
auch alle diejenigen Thatumstände hervorzuziehen, die entweder die Vertheidigung 
geltend macht, oder welche aus der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ihm 
entgegentreten, und deren Nichtberücksichtigung bewirken würde, daß sein Ausspruch 
über die unter 1) erwähnten Thatumstände ein in thatsächlicher oder rechtlicher 
Hinsicht unrichtiger wäre, gleichviel übrigens, ob diese Unrichtigkeit dem An- 
geklagten zu statten käme oder nicht. 3) Dagegen hat er alle diejenigen That- 
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 63
	        
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