Vernehmung. 1057
im Ermittelungsverfahren. Sie ist nothwendig gegenüber dem vorläufig
Festgenommenen (§§ 128, 132), dem Vorgeführten (§ 135), dem Verhafteten
E 115). In diesen Fällen trägt die V. den Charakter einer pflichtmäßigen und
schleunigst vom Richter zum Schutz der perfönlichen Freiheit zu ergreifenden Maß-
regel, deren nächster Zweck Aufklärung des Sachverhalts, Feststellung der perfönlichen
Verhältnisse des Beschuldigten, Beseitigung solcher Irrthümer ist, durch welche die
Beschränkung der persönlichen Freiheit veranlaßt sein konnte. 2) In der Vor-
untersuchung, auch dann, wenn der Angeschuldigte schon vor deren Eröffnung
vernommen wurde, und zwar unter Bekanntgebung der die Voruntersuchung er-
öffnenden Verfügung und in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft und des Ver-
theidigers. 3) In der Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden. 4) In
der Rechtsmittelinstanz, soweit Beweiserhebungen in derselben zulässig sind.
Ueberall ist vorausgesetzt, daß die V. in Gegenwart des gehörig besetzten Gerichtes
erfolgt und durch Protokoll, dem wesentlichen Inhalte nach, urkundlich erhalten
werde. Der Gegenstand der V. bestimmt sich in Gemäßheit des Untersuchungs-
zweckes, der jeweiligen Prozeßlage, der von der Staatsanwaltschaft und der Ver-
theidigung gestellten Anträge, der etwa neu hervortretenden Thatumstände, der
pflichtmäßigen Aufgabe des Richters, die Wahrheit zu ermitteln.
Von besonderer Wichtigkeit in der Reihe der V. ist überall die erste V. im
Vorverfahren und der Voruntersuchung und die V. in der Hauptverhandlung; jene
wegen des Einflusses, den sie auf die Dauer des Strafverfahrens durch Geständniß,
Leugnen oder wahrheitsgemäße Darstellung des Hergangs haben kann, diese wegen
ihres unmittelbaren Eindrucks auf den erkennenden Richter. Für die erste V. ist vor-
geschrieben, daß dem Beschuldigten eröffnet werde, welche strafbare Handlung ihm
zur Last gelegt wird, womit die Befragung zu verbinden ist, ob er auf die Be-
schuldigung erwiedern wolle. Der alte Inquisitionsprozeß verpflichtete den Inkulpaten
oder Inquisiten zur wahrheitsgetreuen Beantwortung der richterlichen Fragen und
erzwang diese Verpflichtung durch sog. Lügenstrafen. Der moderne Prozeß ver-
wirft alle direkten oder indirekten Zwangsmittel zur Erlangung eines Geständnisses
oder irgend welcher Aussage, ingleichen die Ueberlistung des Beschuldigten durch
verfängliche (kaptiöse) Fragen, deren Sinn entweder vorsätzlich unklar gelassen.
oder einer doppelten Deutung fähig sein soll. Auch die sog. Suggestivfragen,
die dem Angeklagten durch ihre Form eine vom Richter erwartete Antwort nahelegen
und ihn auf dieselbe dialektisch hinleiten (daher in England: leading questions),
sind zu mißbilligen und zu vermeiden. Der Franz. Prozeß verpflichtet den In-
quirenten zur direkten Fragestellung und Niederschrift der Antworten in direkter
Rede nach vorangegangenem Diktat, das unter Umständen dem Beschuldigten über-
lassen werden kann. Wenn der Angeklagte oder Beschuldigte zu einer Auslassung
vor Gericht auch nicht genöthigt werden kann und sein Schweigen berechtigt ist, so
darf der Richter dennoch die Verweigerung einer Auslassung als einen den Be-
lastungsbeweis verstärkenden Umstand überall in Betracht ziehen, wofern nicht Gründe
angeführt sind, welche das Schweigen des Angeklagten aus anderweitigen Zweck-
bestimmungen erklären. Ob eine V. des Angeklagten (früher Verhör im
engeren Sinne) überhaupt ein wesentlicher Bestandtheil des Strafprozesses sei, ist
eine Prinzipienfrage, in deren Beantwortung sich die Englische und kontinentale
Anicht scheiden. Der Engl. Prozeß (abweichend vom Schottischen) kennt kein Verhör,
d. h. eine richterliche Befragung des Angeklagten über das Beweisthema, und ver-
warnt denselben vor seinen eigenen Aussagen durch den Hinweis darauf, daß diese
späterhin gegen ihn benutzt werden könnten. Schweigen des Angeklagten ist also nach
den Grundsätzen des streng akkusatorischen Prozesses als Anzeige der Schuld nicht zu
verwerthen. Die kontinentale Prozeßtheorie hat in Uebereinstimmung mit der Gesetz-
gebung daran festgehalten, daß die V. eine wesentliche und nothwendige Grundlage
v. Holtzendorff, Enc. II. Rechtslexikon III. 3. Aufl. 67