1058 Bernehmung.
der richterlichen Beweiserhebung bleibt, dagegen mit der strengen Durchführung des
Anklageprinzips nicht im Einklang steht (Planck, Fuchs).
Angemessen wäre freilich, daß der Angeklagte, wenn er ohne Vertheidiger
erscheint, vom Richter belehrt würde, daß er das Recht habe, zu schweigen. Voraus-
gesetzt ist dabei ferner, daß der Angeklagte weder direkt oder indirekt zum Geständniß
gedrängt cder auch wider Willen dadurch hingeleitet werde, daß man ihn in Wider-
sprüche verwickelt. Ueberhaupt darf der Angeklagte in keiner Weise durch die V.
geschädigt werden. Sein körperlicher und psychischer Zustand zur Zeit der V. ist
zu berücksichtigen. Hegt der Richter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des An-
geklagten, so ist die V. auszusetzen. Ueber die Form der V. ist nur bestimmt, daß
regelmäßig der Richter die V. zu bewirken hat. Das sog. Kreuzverhör der
Zeugen ist in Deutschland nicht üblich. Auch das im Inquisitionsprozeß theils
herkömmliche, theils vorschriftsmäßig gehandhabte Verhör ad articulos oder arti-
kulirte Verhör ist nicht mehr gebräuchlich; doch steht es dem Inquirenten frei,
sich dieser schwerfälligen Form gelegentlich zu bedienen, wenn davon ein Nutzen zu
erwarten ist. Als Inzidentpunkte der V. erscheinen Gegenüberstellungen (Kon-
frontationen) zwischen mehreren angeklagten Personen in der Voruntersuchung,
mehreren Zeugen oder auch Zeugen und Angeklagten, sowie die Vorführung vor
Personen und Gegenstände zum Zweck ihrer Anerkennung (Rekognitionen).
Da die V. soviel bedeutet wie eine zusammenhängende Auslassung des Angeklagten,
so können die Befragungen desselben, ob er am Schlusse der Verhandlungen noch
etwas vorzubringen oder gegen Zeugenaussagen etwas einzuwenden habe, nicht zur
V. gerechnet werden. Aus einer unterlassenen Antwort kann daher in diesen
Fällen bei der Würdigung des Beweises niemals zum Nachtheil des Angeklagten
ein Schluß gezogen werden, wie aus der direkten Weigerung, sich dem Verhör zu
unterwerfen. Verlangt der Angeklagte, daß das Verhör, das seinen am meisten
entsprechenden Platz hinter der Verlesung des Eröffnungsbeschlusses findet, bis nach
dem Schlusse der Beweisaufnahme verschoben werde, so kann seinem Antrage nicht
entgegengetreten werden. Denn die anfängliche Weigerung, sich vernehmen zu lassen,
kann jederzeit zurückgenommen werden. Auch ist die V. nicht blos Recht und Pflicht
des Richters, sondern ebenso sehr ein Recht des Angeklagten.
Die Bestimmungen des Oesterr. Strafprozesses sind im Wesentlichen von den
in Deutschland geltenden nicht verschieden. Als Besonderheit kommt Folgendes in
Betracht. Der Untersuchungsrichter ist ermächtigt, bei verwickelten Punkten an Stelle
der regelmäßigen mündlichen Auslassung eine schriftliche Beantwortung der vor-
gelegten Fragen zu gestatten. Dem Beschuldigten ist während seiner V. in der Vor-
untersuchung ein Sitz zu gestatten (§ 198) und die Forderung zu stellen, die vor-
zulegenden Fragen bestimmt, deutlich und der Wahrheit gemäß zu beantworten.
Suggestivfragen sind wörtlich in das Protokoll aufzunehmen. Die Voruntersuchung
darf durch das Bemühen, ein Geständniß zu erlangen, nicht verzögert werden. In
der Hauptverhandlung ist vor der V. der Angeklagte über seine Berechtigung zu
Erklärungen gegen die Anklage und die Zeugenaussagen zu belehren. Eine Be-
sprechung mit dem Vertheidiger in Beziehung auf die Beantwortung einzelner an
den Angeklagten gestellter Fragen ist nicht gestattet.
Das Franz. Recht betont nachdrücklich die Wichtigkeit der V. (interrogatoire)
in der Voruntersuchung. Unterlassung der V. kann Nichtigkeit des Eröffnungs-
beschlusses zur Folge haben. Für die Hauptverhandlung fehlt es an klaren Vor-
schriften des Gesetzes bezüglich der V. Doch wird das Recht der V. aus dem
pouvoir discrétionnaire des Vorsitzenden abgeleitet (art. 267—269, 319, 334) und
von der Praxis anerkannt, was auch für die Zuchtpolizeigerichte und tribanaux de
simple police gilt. Jedenfalls ist die V. keine wesentliche Förmlichkeit, deren Ver-
letzung Nichtigkeit begründet.