1060 Verordnungerecht.
des Rechts gilt als ein Reservatrecht des freien Mannes, als ein angeborenes Recht
jedes Volksstammes, so lange die letzte Reminiscenz an persönliche Freiheit dauert.
Der Sprachgebrauch der geschäftskundigen clerici bezeichnet dies für die Regierungs-
gewalt ungugängliche Volksrecht als lex, in Bezug auf besondere Völkerschaften nach
ihrer Ansässigmachung als lex terrae.
So entsteht der oberste Grundsatz der Karolingischen Verfassung, daß die lex
terrae nicht durch Verordnung abgeändert werden kann. Es wäre
dies eine Vernichtung der Persönlichkeit des freien Mannes. In untrennbarer
Wechselwirkung damit steht die Gerichtsverfassung. Denn da die Rechtsprechung
durch freie Volksgenossen erfolgt, so vermag keine äußere Zwangsgewalt die Urtheiler
zu nöthigen, von dem Rechtsherkommen abzuweichen. Wird dennoch unter ver-
änderten Verhältnissen eine Aenderung der lex terrae unvermeidlich, so bedarf es
einer höheren Autorität, um die Urtheilsfinder zu bewegen, das neue Recht an-
zunehmen. Es bedarf einer Prüfung und Genehmigung des novum ins durch die
„besten und angesehensten Männer“ des größeren Volksganzen, — nach späterem
Sprachgebrauch eines Weiskhums der notabelsten Schöffen, — um das neue Recht
anzuerkennen und zu beglaubigen. In der Karolingischen Verfassung ergab sich ein
solches consilium optimatum aus den großen Haus= und Hofbeamten des
rex, aus seinen duces, comites, missi, aus den Bischöfen und angesehensten Aebten,
aus den bei den einzelnen Völkerschaften durch hergebrachtes Ansehen hervorragenden
Familienhäuptern. Dies consilium wird Jahrhunderte hindurch nach dem Ermessen
des Königs berufen, wenn auch mit nothwendiger Rücksicht darauf, daß jene Stimmen
zahlreich und angesehen genug waren, um die Urtheiler im Volksgericht zur Folge-
leistung zu bestimmen. Zugleich ergab sich die Nothwendigkeit einer förmlichen
Verkündigung der consensu optimatum erlassenen Verordnungen, welche nun als
„Capitularia pro lege tenenda“, als Rechtsnormen höherer Ordnung, von
den gewöhnlichen Verordnungen geschieden werden. Je fester dann in der nach-
karolingischen Zeit die obrigkeitlichen Gewalten mit dem Großgrundbesitz verwachsen,
desto fester gestaltet sich das consilium optimatum zu einer reichsständischen Ver-
sammlung, ebenso in Deutschland wie in England und Frankreich. Im Gebiet der
kirchlichen Verfassung hat der Romanische Gedanke von der absoluten Autorität des
päpstlichen V. (Kurialsystem) mit dem Germanischen Gedanken eines V. consensu
optimatum (allgemeine Konzilien) fast tausend Jahre hindurch im Streit gelegen.
In der Deutschen Reichsverfassung ist der Germanische Grundsatz zur unbe-
strittenen Geltung gelangt.
Ist nun aber ein solches verfassungsmäßiges Gesetz (eine Verordnung mit Zu-
stimmung der Reichsstände) einmal erlassen, so schließt sie sich als nova lex der
bestehenden lex terrae an, kann also selbst wieder nur consensu optimatum ab-
geändert werden. In diesem Sinne sind die obersten Grundsätze des „konstitutionellen“
Staatsrechts schon in der Karolingischen Monarchie fundirt worden:
1) daß dem Gesetz, als der mit Zustimmung der Landesvertretung erlassenen
Verordnung, als höchstem Ausdruck des Staatswillens, allein die Kraft innewohnt,
bestehendes Volksrecht und Gesetzesrecht abzuändern;
2) daß das von den Gerichten anzuwendende Recht nur durch Gesetz normirt
und verändert werden kann. 6
Diese Grundlagen unseres Rechtslebens sind trotz alles Wandels der Zeiten
und Formen noch heute die maßgebenden. Jene Wandlungen aber umfassen folgende
Hauptpunkte:
I. Die Uebertragung des Gesetzbegriffs auf das Verwaltungs-
recht. War die Zustimmung der optimates terrae nothwendig zur Abän-
derung der lex terrae, so konnte sie als nützlich und rathsam erscheinen auch
für Verordnungen zur Regelung des Heerwesens, der Friedensbewahrung, der gleich-
mäßigen Handhabung der Staatshoheitsrechte überhaupt (des jetzt sog. Verwal-