Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Verwaltungsjurisdiktion, Verwaltungsjustiz. 1115 
Einschätzungsverfahren der direkten Staats= und Kommunalsteuern machte aber auch 
hier ein Bedürfniß unparteiischer Einschätzungsbehörden sich fühlbar. 
In dem dritten Gebiet, der Militärverwaltung, ergab sich ein analoges 
Bedürfniß quasijurisdiktioneller Entscheidungen über die Aushebung zum Heerdienst, 
die Einquartierungs= und Lieferungspflichten. 
Als viertes Gebiet erscheint das Verhältniß von Kirche und Staat, auf 
dem die gesetzlichen Grenzen der Staats= und Kirchengewalt durch theologisch und 
parteimäßig affizirte Entscheidungen der Verwaltungsinstanzen in ein bedenkliches 
Schwanken kamen. 
In dem fünften Gebiet, der Schulverwaltung s schien die Entscheidung 
über die streitigen Rechte des Staates und der Gemeinde, der Kirche und der 
Hausväter in einen eben so bedenklichen Wechsel der Verwaltungsentscheidungen 
hineinzugerathen. 
Das sechste Gebiet, auf welches die Deutsche Auffassung von jeher ein ent- 
scheidendes Gewicht legte, bildete das Verhältniß der Kommunen zum Staat, 
welches durch eine parteimäßige Handhabung der Aufsichts= und Bestätigungsrechte 
in das Schwanken kam und eine guasijurisdiktionelle Entscheidung dieser Fragen 
als Bedingung der „Selbständigkeit“ der Kreis--, Stadt= und Gemeindeverwaltung 
erscheinen ließ. 
Uebersieht man aus dem praktischen Leben des konstitutionellen 
Großstaates diese Gebiete, auf denen sich früher unbekannte Beschwerden über 
den Einfluß des Parteiwesens auf die Verwaltung bewegen, so zeigt sich die über- 
raschende Erscheinung, daß es dieselben Gebiete sind, auf denen schon das alte 
Deutsche Reich eine Art von Verwaltungskontrole durch die Reichsgerichte erstrebt 
hat, und daß es diefelben Gebiete sind, auf denen England sein System der Ver- 
waltungsgerichtsbarkeit seit Jahrhunderten ausgebildet und bis zur Gegenwart fort- 
entwickelt hat. Ohne nähere Kenntniß dieser Verhältnisse (um die sich die Deutschen 
Juristen wenig zu bekümmern pflegen) hat sich empirisch das Gebiet einer 
künftigen V. bereits abgegrenzt, weil aus dem Einfluß der Parlamentsparteien auf 
die Ministerverwaltungen sich nach der übereinstimmenden Erfahrung aller Parlaments- 
regierungen gerade auf diesen Gebieten Machteinflüsse ergeben, welche politische, 
kirchliche und soziale Parteien für ihre nächsten Zwecke nutzbar zu machen wissen. 
Die herrschenden Vorstellungen der Zeit waren freilich Jahrzehnte hindurch 
diesem Gesichtspunkte wenig zugänglich, so lange die großen Schichten der Gesellschaft 
über die Grundlagen der ständischen und der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung 
in heftigem Streit lagen. In solchen Epochen des Streites über die Grundordnung 
der Gesellschaft fehlt eine wirkliche Achtung vor dem böffentlichen Recht, welche erst 
mit der Konsolidirung der neuen Gesellschaft wiederkehrt. Alle Beschwerden über die 
Verwaltung sah man zuerst nur vom Standpunkt des verletzten Individuums an — 
als Individualrechte, welche von der parteiisthen Verwaltung verletzt würden. 
Es ist dies der naturgemäße Ausgang aller Reformideen im öffentlichen Recht, wie 
denn auch die Reformforderungen im Strafrecht länger als ein Menschenalter hindurch 
von individualistischem Standpunkt aus gestellt wurden. Mit dieser gesellschaftlichen 
Auffassung begegnete sich der Bildungsgang der Deutschen Juristen, die seit dem 
Verfall der ständischen Reichs= und Territorialverfassung immer vollständiger sich vom 
öffentlichen Recht abwandten und den allgemeinen Theil des Römischen Civilrechts 
als den Inbegriff aller Rechtsgrundsätze anzusehen sich gewöhnten. Der getreueste 
Ausdruck dieser civilrechtlichen Konstruktion einer Verwaltungsrechtsprechung ist die 
berühmte Schrift von O. Bähr (Der Rechtsstaat, 1861), in welcher der Rechtsschutz 
des öffentlichen Rechts sich zu einem öffentlichrechtlichen Aktionenrecht gestaltet und 
in eine stattliche Reihe von Klagrechten des Unterthanen gegen die Obrigkeit ver- 
vielfältigt. Die civilrechtliche Systematik versuchte dann weiter alle Kollisionen 
zwischen der öffentlichen Gewalt und dem Privatinteresse unter den Gesichtspunkt der
	        
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