1164 Volksseuchen.
Bei herrschenden besonders gefährlichen Seuchen, z. B. Cholera oder Flecktyphus,
muß den Organen der Gesundheitsbehörde das Recht eingeräumt werden, in an-
gemessen erscheinenden Fällen sich durch Eintritt in die Häufser der heimgesuchten
Straßen und Stadttheile genauere Kenntniß von sämmtlichen vorkommenden Er-
krankungsfällen zu verschaffen und überall die erforderlichen Anordnungen zur Isolirung,
zur Desinfektion, zur Ueberführung der Erkrankten in eine öffentliche Anstalt u. s. w.,
je nach Befund der Umstände zu treffen („house to house visitations“ in England).
Kann die Behörde im Lande selbst durch gesetzliche Regelung und strenge
Durchführung des Anzeigewesens sich die nöthige Kenntnißerhaltung von den vor-
kommenden Fällen gefährlicher Seuchenerkrankung sichern, so ist dadurch noch keine
Gewähr geboten für die rechtzeitige Erkennung und Unschädlichmachung der vom
Auslande hereinkommenden Erkrankungsfälle. Die bloße Errichtung und Unter-
haltung von Grenz= und Hafenlazarethen bietet keinen hinreichenden Schutz, besonders
nicht gegenüber solchen Nachbarländern, in welchen die öffentliche Gesundheitsaufsicht
auf niederer Stufe steht und eine genügende Isolirung seuchenkranker Personen oder
Bevölkerungsgruppen nicht zu erwarten ist. Sobald daher in einem Nachbarlande
eine gemeingefährliche, ansteckende Krankheit in erheblichem Umfange ausgebrochen
ist, müssen an der betreffenden Landesgrenze Vorkehrungen getroffen werden, um den
Uebertritt angesteckter Personen ohne den erforderlichen Zwischenaufenthalt in einem
Grenzlazareth nach Möglichkeit zu verhüten. Seit den Heimsuchungen Europa's
durch die Pest im Mittelalter hat sich ein System solcher Abwehrvorkehrungen in
Gestalt der sog. Quarantäneanstalten (von gquaranta, weil in Italien, der
Wiege dieser Anstalten, die Zurückhaltung der Reisenden in derselben anfänglich auf
40 Tage ausgedehnt wurde) ausgebildet, wie wir solche noch gegenwärtig in Oester-
reich und Italien, sowie im Oriente bestehend kennen. Man hielt bei herannahender
Seuchengefahr alle Reisende und alle Waaren in diesen Anstalten so lange fest, bis
die ersteren auf Grund hinreichend langer Beobachtung und die letzteren vermöge
einer vorgenommenen Desinfektion als giftfrei erklärt, und ohne Gemeingefahr in's
Land hineingelassen werden konnten. Diese Veranstaltungen litten stets an der
Kehrseite, daß sie, abgesehen von der einschneidenden Störung des internationalen
Verkehrs, Gelegenheit zu massenhaften Zusammenhäufungen von Menschen unter oft
mangelhaften Lüftungs= und Verpflegungsverhältnissen schufen, und daß die Unter-
bringungslokale für die quarantänirten Grenzreisenden nicht selten selbst zu Infektions-
herden wurden, welche die Umgegend mit verseuchten. Durch fortschreitende Ver-
besserung der bezüglichen Einrichtungen nach den Grundsätzen der heutigen Gesund-
heitslehre würde eine solche Gefahr gewiß vermieden werden können. Schwieriger
dagegen ist die Beantwortung der Frage, ob bei dem heutigen, so enorm gestiegenen
Personen= und Sachenverkehr die Durchführung einer Ouarantänensperre zwischen
zwei europäischen Ländern noch überhaupt mit Aussicht auf Erfolg durchführbar sei
und ob der zu erwartende Erfolg im richtigen Verhältniß stehen werde zu den
enormen Verlusten, welche Handel und Wandel dadurch unvermeidlich erleiden. Der
Erfolg der letzten Quarantänirungen zu Lande gegen die Cholera im Jahre 1830 ist
allerdings ein wenig befriedigender gewesen; doch wäre es voreilig, daraus auf eine
völlige Unbrauchbarkeit des Systems zu schließen; — jedenfalls kann ein Kordon
wie der damalige an der Preußisch-Russischen Grenze — bei welchem auf die
Deutsche Meile nur 30 Soldaten kamen, von denen bei dreitheiligem Ablösungs-
dienste immer nur 10 in Aktion waren — in seinem Erfolge oder Mißerfolge
nicht maßgebend sein für die Frage, ob ein wirksamer Kordon überhaupt ausführbar
sei. Was ein vollkommen organisirter Kordon auch zum Schutze gegen
Choleraeinschleppung vermöge, beweist unter anderen das Beispiel von Zarskoje bei
Petersburg im Jahre 1830, welches mit seiner nächsten Umgebung und mit einer
Bewohnerzahl von 10 000 Menschen sich inmitten einer von der Cholera auf's
Heftigste heimgesuchten Nachbarschaft durch einen genau kontrolirten doppelten