Volksseuchen. 1165
Militärkordon so wirksam abschloß, daß in seinem Bereiche, zu welchem der ge-
sammte kaiserliche Hof gehörte, kein einziger Erkrankungsfall sich ereignete. Während
der von 1829—1835 dauernden Seuche hatten die von Gouvernement zu Gouver-
nement in Rußland errichteten Kordons bei Weitem keinen ganz schützenden Erfolg,
da im Ganzen 336 Städte infizirt wurden und 290 000 Menschen der Krankheit
erlagen. Als man indeß in der nächstfolgenden Epidemie von 1847—1849 keinerleie
Absperrungsmaßregeln vornahm, wurden in der viel kürzeren Dauer von 2 Jahren
471 Städte infizirt und über 1 000 000 Menschen fielen zum Opfer. Da der
Charakter der Seuche im zweiten Falle keineswegs ein an sich bösartiger war, d. h. die
verhältnißmäßige Sterblichkeit unter den Erkrankten nicht größer ausfiel als bei der
ersten Epidemie, so darf der Mehrverlust von 700 000 Menschen wol in erster
Reihe der Verzichtleistung auf jede Absperrung des Uebels zugeschrieben werden. Mit
jeder Beschränkung des Verkehrs beschränkt man auch die Chancen der Einschleppung,
und wenn daher diese wie die meisten sanitären Maßregeln vielleicht niemals einen
vollkommenen Erfolg bieten wird, so ist sie darum noch nicht als entbehrlich
nachzuweisen. Namentlich gilt dies von den Seequarantänen, deren Umgehung
weit leichter und sicherer zu verhüten ist als diejenige der Landquarantänen, —
obgleich auch einer durchgreifenden Handhabung der letzteren die heutige größere
Konzentrirung des Grenzverkehrs auf wenige Eisenbahnpunkte und die Verfügung
über größere Truppenkräfte zu Gute kommen würden. Ganz entbehrlich dürften die
Ouarantänen in Europa wol erst werden können durch die Einrichtung einer solchen
sanitätspolizeilichen Institution, welche das Verfahren sämmtlicher betheiligter
Staaten gegenüber der gemeinsamen Gefahr verheerender V. regelnd und einigend
zusammenfassen wird. Der einstimmige Beschluß der von sämmtlichen europäischen
Regierungen beschickten Wiener Sanitätskonferenz, die Errichtung einer ständigen
internationalen Seuchenkommission zu beantragen, — mit welchem An-
trage auch die Vorlage eines Programms für die Wirksamkeit dieser Kommission
verbunden wurde, — zeigt den richtigsten Weg zur Lösung aller diese Frage um-
gebenden Schwierigkeiten. Aufgabe einer solchen, mit voller öffentlicher Autorität
bekleideten und die gewiegtesten Sachverständigen in ihrer Mitte vereinenden inter-
nationalen Behörde wird es sein, dem Prinzipe der Isolirung aller Infektions-
herde diejenige Ausführungsweise zu verschaffen, welche mit einer möglichst wirk-
samen Bekämpfung der gemeinsamen Gesundheitsgefahr zugleich die möKglichste
Schonung sowol der allgemeinen Verkehrs= und Wohlstandsinteressen, wie der
politischen Empfindungen vereint. Ihr wird es obliegen, die sanitären Ab-
sperrungsmaßregeln unabhängig zu machen von den politischen
Grenzverhältnissen. Nicht die Staatengrenzen gilt es im Grunde abzu-
sperren, sondern die Infektionsgrenzen, gleichviel wo sie liegen und ob sie sich
mit den politischen Grenzen decken oder kreuzen. Einer international zusammen-
gesetzten Seuchenkommission würden nicht blos wissenschaftliche Beobachtungen und
praktische Rathsertheilungen zur Aufgabe zu stellen, sondern auch eine beausfsichtigende
und eventuell exekutive Befugniß zu übertragen sein. Durch die Ueberantwortung
der erforderlichen Exekutive an eine solche Behörde werden die Regierungen sich
selbst von einer schweren Verantwortlichkeit entlasten und den Völkern die beruhigende
Gewähr bieten, daß die zuverlässigsten Schutzmaßregeln stets vorbereitet sind und
ohne Behinderung durch irgend welche politische Empfindlichkeiten überall da, wo es
noth thut, und nur in dem Maße, wie es noth thut, zur exakten Ausführung
gelangen. Sowol der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege in
seiner Generalversammlung zu Stuttgart 1879, wie der dritte internationale Kon-
greß für Hygiene zu Turin 1880 haben daher an die Spitze ihrer Vorschläge zur
Bekämpfung der V. die Aufforderung an die europäischen Regierungen gestellt,
die Beschlüsse der Wiener Sanitätskonferenz von 1874 zur Ausführung zu bringen
durch Errichtung einer ständigen internationalen Seuchenkommission, und bis zur