1228 Waisenrath.
Waisenrath ist das zur Mitwirkung bei der Vormundschaft berufene Ge—
meindeorgan. Der Bevormundete ist nicht nur Mitglied des Staates, welcher für
ihn zu sorgen hat — und eben deshalb wird ja das Vormundschaftsrecht als Theil
des Staatsrechts angesehen —, sondern ebensosehr Mitglied der Gemeinde, welche ein
erhebliches Interesse an der sittlichen Erziehung ihrer Angehörigen hat und auch
zunächst im Fall der Verarmung zur Unterstützung berufen ist. So war schon
im Römischen Recht unter Justinian den Stadtbehörden die Bestellung des Vor-
mundes übertragen und auch nach der RPO. wird als Obervormundschaftsbehörde
die politische angesehen, so daß sie in den Reichsstädten vorzugsweise im Rath der
Stadt sich verkörperte (Roth, Bayerisches Civilrecht, I. S. 497; Mittermaier,
Archiv f. civil. Prx. XVI. S. 210). Es hat sich daher sowol in der Deutschen
Schweiz (Gesetzbuch des Kantons Zürich von 1853 § 358 ff.; Mittermaier a.
a. O. S. 211, 213) als auch in einigen süddeutschen Staaten (Württemberg, Ba-
den — Landesordn. vom 10. Mai 1810 —, Hohenzollern) eine mehr oder weniger
ausgedehnte Mitwirkung der politischen Gemeinde bei Führung der Vormundschaft
erhalten. Die Preuß. Vormundschaftsordnung v. 5. Juli 1875 hat die Betheiligung
der Gemeinde bei der Vormundschaft neu belebt; sie hat ihr zwar die Führung selbst
nicht übertragen, weil sich in den ländlichen Gemeinden die erforderlichen Organe
nicht würden finden lassen und weil eine allzu große Belastung der Gemeinden mit
staatlichen Funktionen schädlich sein würde; allein sie hat die Gemeinde berufen,
um namentlich die bisher nur mangelhaft gewesene Fürsorge für die Person des
Mündels wirksamer zu gestalten. Die einzelnen Anordnungen sind folgende:
I. Bestellung des W.
Für jedes Vormundschaftsgericht sind W. zu bestellen, welche aus einem oder
mehreren Gemeindegliedern bestehen und ihren Wirkungskreis entweder auf eine ganze
Gemeinde oder einen Theil derselben oder mehrere benachbarte Gemeinden zu er-
strecken haben. Die weiteren Detailfragen über Amtsdauer, Ablehnung, Verbindung
mit anderen Gemeindeämtern, kollegiale Einrichtung u. dgl. m. sind der Autonomie
der Gemeinden zur Regelung überlassen (Cirkularreskr. des Min. des Innern vom
3. Nov. und 9. Dez. 1875 — Min. Bl. für die innere Verw. S. 269 bis 273 —,
Allg. Verf. vom 8. Mai 1875 — a. a. O. S. 140—). Kann die Frage dennoch
nicht entschieden werden, so sind die Vorschriften der Städteordnung für die östlichen
Provinzen vom 30. Mai 1853 §§ 56, 74, für Westfalen vom 19. März 1856
88 56, 74, resp. Allg. LR. II. 6 §§ 159 ff. und Kreisordnung vom 13. Dezember
1872 § 23 maßgebend. Für die Gutsbezirke werden die W. von dem Gutsvor-
steher ernannt. Das Amt eines W. ist ein unentgeltliches Ehrenamt, welches als
Gemeindeamt nicht unter der Aufsicht des Vormundschaftsrichters steht, sondern unter
der betreffenden politischen Behörde, an welche etwaige Beschwerden zu richten sind.
Auch Pfarrern kann das Amt übertragen werden (Cirkularreskr. des Evang. Ober-
kirchenraths vom 14. März 1876 — Min. Bl. f. d. innere Verw. S. 78 — und Cir-
kularreskr. des Min. d. Innern vom 21. April 1876 — Min. Bl. f. die innere Verw.
S. 97). Die Organisation des W. und die Bezeichnung seiner Mitglieder, sowie
etwaige Veränderungen in den Personen sind von den Gemeinden bzw. dem Guts-
vorsteher den Vormundschaftsgerichten anzuzeigen.
II. Pflichten des W.
1) Der W. hat dem Vormundschaftsgericht die geeigneten Personen zu Vor-
mündern, Gegenvormündern und Pflegern vorzuschlagen. Hierbei ist der W. einer-
seits an die Reihenfolge der nach den §§ 17—21 der Vorm. Ordn. zu Berufenden ge-
bunden, andererseits steht dem Richter frei, wiewol er den Vorschlag des W. jeden-
falls einzuholen hat (§ 19 Abs. 1), ob er demselben Folge geben will oder nicht.
Der Zweck der Vorschrift ist nur, daß dem Richter die Möglichkeit gegeben wird,
eine geeignete Person für das Amt zu finden.