850 Taubstummenwesen.
Die Ausbildung der Taubstummen ist in früherer Zeit bis zur zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts sehr vernachlässigt worden; man hielt dieselben
für geistig nicht bildungsfähig, und erst die Erfolge, welche der Französische Abbs
de l'Epée in dem von ihm 1760 gegründeten Taubstummeninstitut zu Paris
erzielte, gaben den Anstoß zu weiteren ähnlichen Einrichtungen. In Deutschland
wurde die erste Taubstummenanstalt durch Samuel Heinicke 1778 ins Leben
gerufen. Erst 50 Jahre später entschloß sich die Preußische Staatsregierung Taub-
stummenlehrer ausbilden zu lassen, und errichtete dann in jeder Provinz Taub-
stummenanstalten, meist im Anschluß an die Lehrerseminare, welche gegenwärtig
unter provinzialständischer Verwaltung fortbestehen. Die Unterrichtsmethode
in den Deutschen Anstalten weicht von derjenigen in den Französischen wesentlich
ab. Die letztere benutzt ausschließlich die Geberdensprache als Mittel zur
Begriffsentwickelung, die Deutsche Methode dagegen bedient sich der Lautsprache,
des gesprochenen Wortes als Denkform, bringt diese durch Uebungen im Absehen
und Nachbilden der einzelnen Laute, sowie durch gleichzeitigen Unterricht im Lesen
und Schreiben zum Verständniß und sucht auf diese Weise den Taubstummen in
den Besitz derjenigen geistigen Bildung zu setzen, welche mit dem verständigen Ge-
brauch der Sprache unzertrennlich verbunden ist. Die Aufnahme in den Preußischen
Provinzialanstalten pflegt mit dem 8. Lebensjahr zu geschehen und der Kursus.
6 Jahre zu dauern, so daß die Kinder in der Regel mit dem 14. Lebensjahr
entlassen werden können. Obgleich Zahl und Ausdehnung der provinzialen und
städtischen Taubstummenanstalten noch in der jüngsten Zeit bedeutend gewachsen sind
und die freie Aufnahme unbemittelter in erweitertem Maße gewährt wird, so bleibt
doch bis heute in Deutschland, wie anderwärts, noch ein großer Theil der Taub-
stummen ohne geeigneten Unterricht. In der Preußischen Rheinprovinz z. B. betrug
gemäß einer im Jahre 1878 von der Staatsregierung veranlaßten statistischen Auf-
nahme die Zahl der des Unterrichts ermangelnden taubstummen Kinder im Alter
von 7—15 Jahren noch 303, während 402 derselben Altersklasse angehörige sich
in den rheinischen Taubstummenanstalten befanden.
Bezüglich der äußeren Organisation der Taubstummenanstalten hat sich
in den letzten Dezennien das System der Externate am besten bewährt. Die Zög-
linge werden zu 2 bis höchstens 4 in geeigneten Familien untergebracht, mit
welchen ein besonderer Pflegevertrag geschlossen wird. Die häusliche Kontrole und
Sorge für Innehaltung des Pflegevertrages liegt dann dem Anstaltsvorsteher und.
den betreffenden Klassenlehrern ob. Durch die Erziehung in der Familie wird die
Einseitigkeit, welche allem Internatleben anhaftet, vermieden und die Vorbereitung.
für das spätere bürgerliche Leben eine bessere. Unter den aus den Anstalten ent-
lassenen, welche mit seltenen Ausnahmen im Stande sind sich und ihre Angehörigen
zu ernähren und deren sittliche Führung überall als eine musterhafte bezeichnet zu
werden pflegt, findet man die tüchtigsten Handwerker (besonders Schuhmacher,
Schreiner, Drechsler, Handschuhmacher), nicht selten auch talentvolle Künstler; die
weiblichen Zöglinge finden später ihren selbständigen Unterhalt als Näherinnen,
Büglerinnen oder mittels Haushaltungsarbeiten.
Die civilrechtliche Stellung der Taubstummen war seit dem Alterthum
derjenigen von Unmündigen, Wahn= oder Blödfinnigen gleichgestellt. Kaiser Justinian
verordnete, daß sie keine Freiheit, einen letzten Willen zu errichten, haben sollten,
und Kaiser Maximilian bestimmte, „zu jedem Testamente gehöre, daß der Testirende
mit verständigen Worten reden oder schreiben könne“. Erst seit dem Anfange dieses
Jahrhunderts wird von den Gesetzgebungen allgemein dem Unterschiede Rechnung.
getragen, ob der Taubstumme Unterricht genossen habe und mit welchem Erfolge.
So bestimmt in Preußen das Allg. LR. (Thl. II. Tit. 18 § 818), daß „die Vor-
mundschaft über Taubstumme aufhören sollte, wenn bei angestellter Untersuchung.
sich finde, daß sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt seien“,