Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

Taubstummheit. 851 
und bezüglich der Fähigkeit zu testiren heißt es (Thl. I. Tit. 12 § 26), daß 
„tauben oder stummen Personen, welche sich schriftlich oder mündlich ausdrücken 
können, die Gesetze bei Errichtung ihres letzten Willens nicht entgegenstehen“. 
Eine beantragte Wiederaufhebung der gesetzlichen Kuratel über großjährige Taub- 
stumme darf niemals ohne Anhörung eines sachverständigen Gutachtens erfolgen oder 
abgelehnt werden. 
Das Deutsche Stras GB. erwähnt der Taubstummheit im § 58, wonach 
„ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniß der Strafbarkeit einer von ihm be- 
gangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besaß, freizusprechen ist“; ferner im 
§ 65, nach welchem „bei bevormundeten Taubstummen der Vormund zur Stellung 
eines strafrechtlichen Antrages (wegen Verletzung) berechtigt ist“. 
Bei der civilrechtlich häufiger, strafrechtlich seltener vorkommenden gerichts- 
ärztlichen Untersuchung des geistigen Zustandes taubstummer Personen muß 
in der Regel der schriftliche Mittheilungsweg benutzt werden, vorausgesetzt natür- 
lich, daß die betreffende Person schreiben und lesen gelernt hat. Wenn letztere 
Voraussetzung nicht zutrifft, so wird zur Gewinnung eines klaren Einblicks in das 
Seelenvermögen des zu Untersuchenden stets die Zuziehung eines Taub- 
stummenlehrers rathsam sein. 
Lit.: Jäger, Ueber die Behandlung blinder und taubstummer Kinder, Stuttg. 1830.— 
Neumann, Die Taubstummenanstalt zu Paris, Königsb. 1827. — Graser, Der durch 
Gesichts= und Tonsprache der Menschheit wiedergegebene Taubstumme, Bayreuth 1834. — 
Friedreich, System der gerichtlichen Psychologie, Regensb. 1852. — G. Mayr, Die Ver- 
ol 
breitung der Taubstummheit 2c., München 1877. — Die Provinzial-Taubstummenanstalten 2c. 
der Rheinprovinz, Düsseldorf 1880. Finkelnburg. 
Taubstummheit. Der Einfluß, welchen das schwere Gebrechen der T. auf 
die Entwickelung der geistigen Kräfte des Menschen übt, hat stets der Gesetzgebung 
Veranlassung geboten, diesem Zustande ihr besonderes Augenmerk zuzuwenden. Sie 
hat dabei nicht übersehen, daß einestheils nur die geistige Entwickelung des Taub- 
stummen es ist, welche ihr Eingreifen erfordert, und daß anderentheils das Gebrechen 
nicht immer als ein schon bei der Geburt vorhandener organischer Fehler auftritt, 
sondern auch durch spätere innere oder äußere Vorgänge uud Einwirkungen auf den 
Körper hervorgerufen werden kann, welche die Ausbildung des Geistes bereits bald 
im höheren bald im minderen Grade vorgefunden haben. Wenn auch im Staats- 
recht ein derartiger defectus corporis ganz allgemein und ohne Rücksicht auf seine 
Entstehung ein so schwer wiegendes Moment ist, daß er dem Kranken jeden Zugang 
zu den öffentlichen Aemtern versagt, ihn auch nach dem Deutschen Prozeßrechte zur 
Uebernahme des Schöffen= und Geschworenendienstes unfähig macht, statuirt doch das 
bürgerliche Recht einen Unterschied, je nachdem der Taubstumme trotz des Ge- 
brechens vermöge der vor dem Eintritt oder während desselben erlangten geistigen 
Ausbildung in der Lage ist, seine Rechtsgeschäfte selbst zu besorgen oder nicht. Nach 
Nöm. Recht wurde ihm im letzteren Falle ein curator bestellt, der ihn bei seinen 
Rechtsgeschäften zu vertreten hatte, und wurde ihm in der früheren Zeit jede Fähig- 
keit, über sein Vermögen unter Lebenden oder von Todeswegen zu verfügen, ab- 
gesprochen. Erst Justinian gab ihm, falls er schreibenskundig war, die Testaments- 
fähigkeit, jedoch mit Ausnahme, wenn er taubstumm geboren war (I. 10 Cod. qui 
testamenta facere possunt 6, 22). Im Gem. Recht ist diese Ausnahme insofern 
beseitigt worden, als auch dem letzteren, wenn er schreiben kann, die Testamentsfähigkeit 
zugesprochen wurde. Ziemlich denselben Standpunkt vertritt das Preußische Landesrecht. 
Es erklärt die Taubstummen für testamentsfähig, sobald sie des Schreibens mächtig 
sind (Allg. MR. I. 12 § 26) und schrieb im § 15 II. 18 I. c. vor, daß sie unter 
Vormundschaft gestellt werden sollten, wenn sie taubstumm geboren oder vor zurück- 
gelegtem 14. Lebensjahre geworden waren und nicht mehr unter väterlicher Gewalt 
standen, machte dagegen ihre Bevormundung im § 16 ibid., wenn sie erst in späteren 
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