1894 Zeugenbeweis.
erregen, daß es nicht nur im höchsten Grade unbillig wäre, ihn zu einer Zeugen-
aussage zu verhalten, sondern ganz unlogisch, ihn zu einer solchen, die doch nur,
soweit sie ihm ungünstig wäre, an sich beweiskräftig, unter dieser Voraussetzung aber
als Geständniß zu behandeln wäre, zuzulassen. (Dies spricht insbesondere gegen
den in neuester Zeit in England gemachten Vorschlag, dem Angeklagten zu gestatten,
sich als Entlastungszeuge vernehmen zu lassen; vgl. d. Art. Hauptverhand-
lung BRd. II. S. 282, 283). In Wahrheit entscheidet hier die Unvereinbarkeit der
Prozeßstellung des Beschuldigten mit der eines Zeugen, und dieser Gesichtspunkt ist
auch maßgebend für die Lösung der sehr bedeutenden Schwierigkeiten, welche sich bei
der Durchführung des im Allgemeinen als richtig anerkannten Satzes ergeben. Diese
Schwierigkeiten zeigen sich zunächst in jenem Vorgange, welcher im Gemeinen Deutschen
Inquisitionsprozeß als Vernehmung inter reum et testem bezeichnet wurde. Ohne
hier auf den mit der Geschichte der Gliederung des Strafprozesses auf das engste zu-
sammenhängenden Einfluß des Reates, auf die Behandlung des Verdächtigen in den
verschiedenen Stadien des Prozesses einzugehen, ist hervorzuheben, daß der Vorgang
bald erlaubt und zweckmäßig, bald ein ganz abusiver sein kann. Sobald sich gegen
eine bestimmte Person erheblicher Verdacht einer strafbaren Handlung ergeben hat,
darf sie in keinem Fall mehr als Zeuge behandelt werden, weder indem man ihr
geradezu die Pflichten eines Zeugen vorhält, noch indem man sie im Zweifel darüber
läßt, in welcher Eigenschaft sie vernommen werde. Andererseits ist es beim redlichsten
Willen nicht zu vermeiden, daß sehr häufig bei den ersten Nachforschungen unter
den Personen, von welchen über das Verbrechen Aufschluß erwartet wird, auch der-
jenige vernommen wird, wider welchen sich später der Verdacht und selbst die An-
klage wegen dieses Verbrechens erhebt. Die beiden Vorgänge, moralisch soweit von
einander verschieden, gehen in ihrer prozessualen Gestaltung leicht ineinander über,
und es giebt in der That nur ein sicheres und gerechtes Mittel, wenigstens gröb-
lichen Mißbrauch fern zu halten, daß Dasjenige, was der spätere Angeklagte über
die den Gegenstand dieser Anklage bildende That bei einer Zeugenvernehmung oder
bei einem Verhör, welches ihm als solche erscheinen konnte, ausgesagt hat, als Be-
weismittel gegen ihn nicht benutzt werden darf. Wird daran festgehalten, daß die
Aussage jedenfalls nicht unter den Begriff des Z. fallen kann, so erledigen sich
auch die sehr erheblichen, hier nicht zu erörternden Schwierigkeiten bezüglich der
strafrechtlichen Beurtheilung falscher Aussagen der Beschuldigten verhältnißmäßig
leicht. — Viel größer und bedenklicher sind die Schwierigkeiten, welche bei einer
Mehrheit von Beschuldigten oder Verdächtigen sich ergeben können.
Es können hier nämlich die verschiedensten Verhältnisse eintreten:
1) Es kann der Verdacht über zwei Personen so schweben, daß es als gewiß
gilt, eine von beiden sei der Verbrecher. In der Regel wird hier lediglich die
Prozeßstellung, welche vor der Hauptverhandlung regulirt sein muß, entscheiden;
auf Grund der Ergebnisse des Vorverfahrens wird die eine der beiden Personen an-
geklagt, die andere außer Verfolgung gesetzt sein; die letztere wird vielleicht ein be-
denklicher, verdächtiger Zeuge sein, aber sie muß, wenn sie vernommen werden soll,
als Zeuge behandelt werden. (Nur im Falle der Wiederaufnahme wäre es denkbar,
daß gleichzeitig die wiederaufgenommene Verhandlung gegen die eine, und die Haupt-
verhandlung über die Anklage gegen die andere Person vorgenommen würde.)
2) Es kann die Anklage gegen Mehrere als gemeinschaftlich an derselben straf-
baren Handlung Betheiligte (Mitthäter, Theilnehmer, Begünstiger, Hehler) erhoben
sein und gegen alle gleichzeitig verhandelt werden. In diesem Falle mag materiell
ein Mitangeklagter gegen oder für den andern aussagen, aber prozessualisch ist keiner
als Zeuge zu behandeln; insbesondere steht daher die das Fragerecht gegenüber dem
Angeklagten auf die Person des Vorsitzenden einschränkende Bestimmung des § 239
der Deutschen StrasP O. einer Befragung eines Mitangeklagten durch einen anderen
entgegen. Der Benutzung einer von dem Mitbeschuldigten als solchem in der Vor-