Zurechnungsfähigkeit. 1455
psychischen Bedingungen erfüllt sind, da besteht psychologische Z. Diese fällt zu-
sammen mit der kriminalistischen, bildet ihre Voraussetzung. Ueber sie hinaus reicht
die moralische Z. Sie ist vorhanden, sobald Jemand im Stande ist, nicht blos aus
logischen, von der Intelligenz gelieferten Motiven des Nützlichen und Schädlichen,
des Erlaubten und Verbotenen eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen,
sondern diese Fähigkeit durch ihm zu Gebote stehende Motive der Sittlichkeit besitzt.
Die moralische Z. ist eine höhere Potenz als die psychologische und setzt eine höhere
Kulturstufe des Individuums voraus. Der auf Prinzipien der Zweckmäßigkeit und
Nützlichkeit basirte Rechtsstaat fordert vom Staatsbürger nicht höhere ethische, sondern
blos intellektuelle Reife, deren praktischer Ausdruck ein Erkenntnißvermögen ist, das
sich bis zur Höhe eines Strafbarkeitsbewußtseins erhebt. Das Gebiet der strafrecht-
lichen Z. ist damit nothwendig ein enger begrenztes als das der moralischen, die
vor dem Forum des Gewissens, der Religion und der Familie nicht blos Geschehenes,
das vom Richter etwa gar nicht oder nur auf Antrag bedroht ist, sondern auch
Gewolltes und Gedachtes verurtheilt.
Setzt auch die strafrechtliche Z. nur eine volle Einsicht in die strafrechtliche
Verantwortlichkeit theoretisch voraus, so werden doch im Kulturstaat und beim
Kulturmensch nicht blos logische, sondern auch ethische Motive im Bewußtsein vor-
handen sein und den Erfolg bestimmen und ein völliges Fehlen ethischer Beweg-
gründe in diesem Berücksichtigung (mildernde Umstände) verdienen, indem es er-
fahrungsgemäß durch eine inferiore Hirnorganisation (moralisches Irresein) oder ver-
kümmerte Erziehung bedingt ist.
Der Gesetzgeber vermuthet die Z. von einem gesetzlich normirten Lebensabschnitt
an, aber diese Vermuthung involvirt nicht eine Präsumtion für den konkreten Fall.
Die Frage der Z. in diesem ist conditio sine qua non der Schuldfrage überhaupt,
der wesentliche Bestandtheil des subjektiven Thatbestands. Das Urtheil, daß Jemand
schuldig sei, enthält implicite den Ausspruch der Z., weshalb auch im schwurgericht-
lichen Verfahren die Geschworenen, falls sie an der Willensfreiheit des Angeklagten.
zweifeln, die richterlicherseits gestellte Frage, ob der Thäter schuldig sei, einfach
verneinen.
Die Beurtheilung der Z. als integrirender Bestandtheil des Thatbestandes kann
selbstverständlich nur dem Richter zufallen. Da die Beweislast diesem zukommt,
kann vom Angeklagten nicht verlangt werden, daß er seine Unzurechnungsfähigkeit
beweise, ebensowenig billigerweise sein eigener oder seines Rechtsbeistandes Antrag.
auf Stellung der Frage nach der Z. abgewiesen werden. Die Formulirung der-
selben ist selbstverständlich Sache des Gerichtshofes.
Der Mangel der freien Willensbestimmung zur Zeit der strafbaren Handlung.
hebt die Zurechnung auf und bildet einen Strafausschließungsgrund (§ 51 des Deutschen
StrafSB.; § 2 des Oesterr.; § 64 des Code pénal francçais). Dieser Mangel.
muß thatsächlich erwiesen und vom Richter erkannt sein. Bloße Indizien, so lange-
sie nicht eine richterliche Ueberzeugung herbeiführen, genügen nicht zur Freisprechung,
wol dürfte es aber dann geboten sein, die Schlußverhandlung zu vertagen und damit
Zeit zur ferneren Beobachtung und Untersuchung des Angeklagten zu gewinnen.
Da thatsächlich viele strafbare Handlungen im Zustand aufgehobener Willens-
freiheit zu Stande kommen, weisen die Kriminalordnungen der verschiedenen Länder
den Untersuchungsrichter an, ein sorgfältiges Augenmerk auf den Gemüths= und
Geisteszustand des Angeschuldigten zu haben und, falls sich irgendwie Zweifel über
dessen Integrität ergeben, zur Ermittelung derselben das Geeignete zu verfügen. Die
Initiative zur Anstellung einer exploratio mentalis ist damit ganz in die Hände
des Richters gegeben, und von seiner Umsicht, Erfahrung und Gewissenhaftigkeit
hüngt es wesentlich ab, ob rechtzeitig ein vorhandener unfreier Geisteszustand
erkannt wird.