1456 Zurechnungsfähigkeit.
Bei der Unwissenheit und den Vorurtheilen, in denen so viele Richter über
Wesen und Kennzeichen solcher Zustände besangen sind, ist es nicht zu verwundern,
daß sie häufig gar nicht oder erst spät erkannt werden.
Hat sich der Untersuchungsrichter die Ueberzeugung verschafft, daß der An-
geschuldigte zur Zeit seiner That im Zustand aufgehobener Willensfreiheit sich be-
funden habe, so ist er befugt die Untersuchung wegen mangelnder Z. einzustellen.
Der Betreffende ist dann kein Gegenstand der Strafrechtspflege mehr, wol aber kann
polizeilich die Frage seiner Gemeingefährlichkeit und ob er deshalb Gegenstand öffent-
licher Fürsorge sein muß, erhoben werden. Sehr häufig steigen erst nach geschlossener
Voruntersuchung und erfolgtem Verweisungsbeschluß Zweifel über die Z. des nun-
mehr Angeklagten auf. Da die Anklage einmal erhoben ist, muß der Rechtsfall
zum Austrag kommen. Zur Frage nach der Z. in Bezug auf die inkriminirte That
kommt hier die, ob mit dem Angeklagten verhandelt werden könne. Eine Ver-
handlungsfähigkeit in psychischer Beziehung kann nur dem zugesprochen werden, der
sich vertheidigen kamn. Sie setzt nothwendig das Bewußtsein der Handlung in straf-
rechtlicher Hinsicht, die Kenntniß der Rechtsmittel und Rechtswohlthaten voraus und
dürfte nur in den seltensten Fällen Jemand zuzuerkennen sein, der sich unter der
Fortwirkung von Bedingungen befindet, welche zur Zeit seiner That ihm die Freiheit
der Willensbestimmung raubten. Wird die Frage der Verhandlungsfähigkeit, die
natürlich nur auf Grund einer technischen Untersuchung beantwortet werden kann,
verneint oder verfällt der Angeklagte erst während der Verhandlung in einen Zustand
geistiger Unfreiheit, so wird jene vertagt und der Kranke in einer Irrenanstalt bis
zu seiner Herstellung internirt. Ist diese erfolgt, so muß, falls die strafbare Handlung
noch nicht verjährt ist, der Prozeß wieder ausgenommen werden. Dieses Vorgehen
ist logisch, aber hart. Die Rückversetzung ins Gefängniß oder auf die Anklagebank
führt leicht eine Rezidive herbei, wodurch der Zweck verfehlt und die Gefahr einer
Unheilbarkeit des Leidens gesetzt wird. Es dürfte hier Fälle geben, wo die Humanität
eine Niederschlagung des Prozesses auf dem Wege der Gnade fordert.
Häufig genug fsind die subjektiven Momente des Thatbestandes so beschaffen,
daß zwar die Voraussetzungen der Z. nicht geradezu fehlen, aber doch äußere gesell-
schaftliche (fehlende oder schlechte Erziehung) oder innere organische Bedingungen
obwalteten, welche die freie Selbstbestimmungsfähigkeit beeinträchtigten und damit
die Schuld mindern.
Unter den organischen können es angeborene oder erworbene psychische Schwäche-
zustände, in erblichen Anlagen begründete Anomalien des Charakters u. dgl. sein,
die das Gewicht unsittlicher Antriebe vermehrten, die Widerstandskraft schwächten,
ungewöhnlich starke Affekte und Leidenschaften provozirten, die Klarheit und Be-
sonnenheit der Beurtheilung trübten 2c.
Die frühere Gesetzgebung suchte solchen zahlreichen Fällen durch die Annahme
einer verminderten Z. gerecht zu werden, die neuere durch die logischer gedachte
Annahme mildernder Umstände.
In einer Reihe von Fällen, wo die Zurechnung auf Grund äußerer Bedingungen
GChysische Gewalt, Drohung, Nothstand) entfällt oder die Schuld durch mildernde
Umstände (fehlende oder schlechte Erziehung, jugendliches Alter) gemindert wird,
bemißt einfach der Richter der Thatfrage das Gewicht dieser psychologischen Momente
für die Bestimmung von Schuld und Strafe.
Sind jedoch, wie so häufig, innere organische Momente im Spiel, so wird die
Mitwirkung des ärztlichen Technikers erforderlich.
Die Erkenntniß, daß jene in krankhaften Zuständen des Gehirns bestehen, fordert
logischerweise diese Intervention des ärztlichen Sachverständigen, die auch durch die
StrafPO. der verschiedenen Länder vorgeschrieben ist.
Ueber die Stellung des ärztlichen Technikers vor Gericht ist viel und unnöthiger-
weise gestritten worden. Sie ist weder die eines Zeugen noch die eines Gehülfen