Zurechnungsfähigkeit. 1459
Ausbrüche blinder Wuth sich äußern und der Sicherheit des Lebens und Eigenthums
gefährlich werden, zuweilen auch durch unsittliche Attentate, deren Opfer dann vielfach
Kinder sind.
Schwachfinn (imbeecillitas). Hier besteht nur ein quantitativer Unterschied
gegenüber der Leistungsfähigkeit des Vollsinnigen, und die Unterscheidung des patho-
logischen Schwachsinns von der aus bloßer Dummheit, mangelhafter Erziehung
resultirenden Beschränktheit des Vollsinnigen gehört deshalb zu den schwierigsten
gerichtsärztlichen Aufgaben. Im Allgemeinen charakterisirt sich der Schwachfinn
durch Verlangsamung und Schwerfälligkeit aller psychischen Prozesse. Namentlich
schwer fallen alle die Sphäre des Sinnlichen übersteigenden Leistungen, die Bildung
von Abstraktionen vom Sinnlichkonkreten, von Begriffen, Urtheilen. Der intellektuelle
Horizont ist damit ein engbegrenzter, ein Wissens= und Forschungstrieb nach dem
Grund der Dinge fehlt, eigene und neue Ideen kommen nicht zu Stande und damit
fehlt das plan= und zielvolle Streben des Vollsinnigen. Auch die Bildung ethischer
und rechtlicher Begriffe ist eine unzulängliche. Der Schwachsinnige bedarf in seinen
intellektuellen und ethischen Leistungen fortwährend der Beihülfe des Vollsinnigen,
und bei seiner Unselbständigkeit genügt die Autorität Anderer, um, sei es durch
Ueberredung oder Drohung, seinen Bestrebungen eine bestimmte Richtung zu geben.
Die Unzulänglichkeit der intellektuellen und ethischen Leistungen des Schwach-
sinnigen zeigt sich besonders in seinen Affekten. Die Verlangsamung des Vorstellungs-
prozesses und Dürftigkeit der zu Gebote stehenden hemmenden Vorstellungen läßt
eine Selbstbeherrschung kaum zu. So gehen die freudigen Affekte des Schwachsinns
leicht in tolle Ausgelassenheit, seine depressiven in Wuth oder in Verwirrung über,
die namentlich leicht aus dem Affekt der Furcht erfolgt und dann in kopfloses
Entsetzen ausartet.
Eine Grundregel bei solchen Schwachsinnigen ist, daß man sie synthetisch und
nicht analytisch beurtheile, die ganze Persönlichkeit berücksichtige und nicht einzelne
Leistungen, die, soweit sie in angeborenen Dispositionen wurzeln (artistisches Talent)
oder durch Uebung erlernt sind, denen Vollsinniger ganz gleichkommen können,
während gleichwol das geistige Leben nach allen anderen Richtungen sich steril und
insuffizient erweist.
Auch das Unterscheidungsvermögen solcher Individuen muß mit Vorsicht be-
urtheilt werden. Viele derselben kennen zwar auf Grund mühsamer Schulbildung
die allgemeinen Vorschriften des Sittengesetzes und Rechts, sind im Stande, die ihnen
einverleibten sittlichen Anschauungen und rechtlichen Urtheile Anderer jederzeit zu
reproduziren, aber von diesem abstrakten Kennen gewisser Katechismus= und Moral-
begriffe ist es noch ein weiter Schritt zu der sittlichen und intellektuellen Höhe
eines Vollsinnigen, der aus einem selbsterworbenen Charakter heraus das Gewicht
selbstgeschaffener sittlicher und rechtlicher Motive beständig geltend zu machen vermag.
Diese Fähigkeit, allgemeine sittliche und rechtliche Begriffe im eigenen und konkreten
Fall zur Geltung zu bringen, fehlt großentheils dem Schwachsinnigen, wenn er auch
die abstrakte Frage nach der Sündhaftigkeit und Unrechtmäßigkeit einer gedachten
Handlung theoretisch ganz befriedigend zu beantworten weiß.
Die Z. der Schwachsinnigen kann nicht an und für sich in Abrede gestellt
werden; in Affektzuständen dürfte sie fehlen.
Taubstummheit. Besondere Bestimmungen hat der Gesetzgeber in Betreff
der rechtlichen Verantwortlichkeit des Taubstummen getroffen. § 58 des Deutschen
Straf GB. bestimmt, daß ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniß der Straf-
barkeit einer von ihm begangenen strafbaren That erforderliche Einsicht nicht besaß,
freizusprechen ist.
Wie beim Unmündigen muß also jeder Fall als ein konkreter beurtheilt, die
Frage der Z. offen gelassen und durch eine exploratio mentalis geklärt werden.
Was über das Unterscheidungsvermögen beim Schwachsinnigen gesagt wurde, gilt
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