Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Zweite Hälfte. Stolgebühren - Zypaeus. (2.3.2)

1460 Zurechnungsfähigkeit. 
auch hier. Ueberhaupt dürfte der Taubstumme, wenn er auch mit Erfolg unter- 
richtet wurde, dem Schwachsinnigen gleichzustellen sein, denn nie wird die Zeichen- 
und Schriftsprache das ersetzen, was dem geistigen Leben solcher Unglücklicher durch 
den Mangel des vermittelnden und belebenden Elementes der Sprache und des 
Austausches des eigenen Bewußtseinsinhalts mit dem anderer Menschen abgeht. 
Auch die Affekte der Taubstummen haben viel mit denen Schwachsinniger Gemein- 
sames. Zudem sind die meisten Taubstummen reizbar und zu Zornesausbrüchen 
geneigt. Ein Taubstummer, der keinen Unterricht genossen hat, ist dem Blödsinnigen 
gleichzusetzen. 
Das moralische Irresein. Die althergebrachte Anschauung, daß das 
Irresein sich in Wahnideen und Sinnestäuschungen äußere, hat lange einen psychi- 
schen Entartungszustand übersehen lassen, der am besten als moralisches Irresein 
(folie morale, moral insanity) bezeichnet wird. Es kann nach dem heutigen Stande 
der med.-psychol. Wissenschaft nicht mehr bezweifelt werden, daß es psychisch abnorme 
Zustände auf Grund organischer Hirnveränderungen giebt, die sich nur in krankhaften 
Stimmungen, Affekten, Aenderungen des Charakters, der ethischen Gefühle und 
Urtheile, in unsittlichen Neigungen und verbrecherischen Impulsen, bei höchstens 
formaler und quantitativer, nicht aber qualitativer Schädigung der intellektuellen 
Prozesse kundgeben. " 
Ein solcher Zustand ist das moralische Irresein. Die sittliche Depravation ist 
hier keine ethische, sondern eine organische, sie ist hervorstechendes klinisches Symptom 
eines Degenerationszustandes, der schon ab ovo besteht und in wirklich degenerativen 
Momenten (Trunksucht, Epilepsie, Geisteskrankheit der Erzeuger) begründet, sich schon 
von Kindesbeinen auf in völliger Unfähigkeit zur Erwerbung moralischer Urtheile 
und sittlicher Gefühle verräth oder an eine im Laufe des Lebens entstandene schwere 
Hirnerkrankung (Epilepsie, Kopfverletzung, senile Involution des Gehirns, Alkohol- 
mißbrauch) sich anschließt. Es besteht gegründeter Verdacht, daß viele moralisch 
Irre in obigem Sinn auf Grund einseitig ethischer Beurtheilung als Gewohnheits- 
verbrecher in die Zuchthäuser wandern. 
Die negativen Merkmale dieses eigenthümlichen Degenerationszustandes sind 
Fehlen von Delirien und Hallucinationen, die positiven, neben Erscheinungen eines 
intellektuellen Schwachsinnes mäßigen Grades, ein vollständiger Mangel der sittlichen 
und rechtlichen Gefühle, eine völlige Depravation des Charakters mit verbrecherischen 
unsittlichen Trieben und Strebungen. 
Der intellektuelle Schwachsinn giebt sich in Unfähigkeit zu einer geordneten 
Thätigkeit, zu einem wirklichen Lebensberuf, in Beschränktheit des Urtheils, geringer 
Aktivität und Energie, Einsichtslosigkeit nicht blos in das Unsittliche, sondern auch 
positiv Verkehrte, den eigenen Interessen Schädliche des Thuns, in Unbesonnenheit 
bei der Ausführung verbrecherischer Handlungen, wenn sie auch vielfach den Stempel 
der List und Bosheit an sich tragen, kund. 
Der moralische Defekt im Mangel aller sozialen Gefühle, in Roheit, Grau- 
samkeit, Gleichgültigkeit gegen sittliche Werthschätzung durch Andere, Reuelosigkeit. 
Die unterscheidenden Merkmale solcher entarteten Individuen vom Gewohn- 
heitsverbrecher können nur durch den Nachweis einer Hirnerkrankung geliefert werden. 
Die Monstrosität ihrer Handlungen, die Unwiderstehlichkeit, Absurdität ihrer 
Triebe, die Spontaneität und Plötzlichkeit, mit der diese sich regen, die Unvorsichtig- 
keit, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, mit der sie befriedigt, der Cynismus, mit dem 
sie zur Schau getragen und eingestanden werden, die Machtlosigkeit aller erziehenden, 
bessernden Einflüsse, haben nur Bedentung, wenn jener Beweis erbracht ist. 
Wir schöpfen ihn außer dem Nachweis der diesem Degenerationszustand zu 
Grunde liegenden Ursachen aus Folgendem: 
1) Es finden sich vielfach Funktionsstörungen und körperliche Infirmitäten in 
der Sphäre des Nervensystems, die theils als angeborene Hemmungsbildungen
	        
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