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auch hier. Ueberhaupt dürfte der Taubstumme, wenn er auch mit Erfolg unter-
richtet wurde, dem Schwachsinnigen gleichzustellen sein, denn nie wird die Zeichen-
und Schriftsprache das ersetzen, was dem geistigen Leben solcher Unglücklicher durch
den Mangel des vermittelnden und belebenden Elementes der Sprache und des
Austausches des eigenen Bewußtseinsinhalts mit dem anderer Menschen abgeht.
Auch die Affekte der Taubstummen haben viel mit denen Schwachsinniger Gemein-
sames. Zudem sind die meisten Taubstummen reizbar und zu Zornesausbrüchen
geneigt. Ein Taubstummer, der keinen Unterricht genossen hat, ist dem Blödsinnigen
gleichzusetzen.
Das moralische Irresein. Die althergebrachte Anschauung, daß das
Irresein sich in Wahnideen und Sinnestäuschungen äußere, hat lange einen psychi-
schen Entartungszustand übersehen lassen, der am besten als moralisches Irresein
(folie morale, moral insanity) bezeichnet wird. Es kann nach dem heutigen Stande
der med.-psychol. Wissenschaft nicht mehr bezweifelt werden, daß es psychisch abnorme
Zustände auf Grund organischer Hirnveränderungen giebt, die sich nur in krankhaften
Stimmungen, Affekten, Aenderungen des Charakters, der ethischen Gefühle und
Urtheile, in unsittlichen Neigungen und verbrecherischen Impulsen, bei höchstens
formaler und quantitativer, nicht aber qualitativer Schädigung der intellektuellen
Prozesse kundgeben. "
Ein solcher Zustand ist das moralische Irresein. Die sittliche Depravation ist
hier keine ethische, sondern eine organische, sie ist hervorstechendes klinisches Symptom
eines Degenerationszustandes, der schon ab ovo besteht und in wirklich degenerativen
Momenten (Trunksucht, Epilepsie, Geisteskrankheit der Erzeuger) begründet, sich schon
von Kindesbeinen auf in völliger Unfähigkeit zur Erwerbung moralischer Urtheile
und sittlicher Gefühle verräth oder an eine im Laufe des Lebens entstandene schwere
Hirnerkrankung (Epilepsie, Kopfverletzung, senile Involution des Gehirns, Alkohol-
mißbrauch) sich anschließt. Es besteht gegründeter Verdacht, daß viele moralisch
Irre in obigem Sinn auf Grund einseitig ethischer Beurtheilung als Gewohnheits-
verbrecher in die Zuchthäuser wandern.
Die negativen Merkmale dieses eigenthümlichen Degenerationszustandes sind
Fehlen von Delirien und Hallucinationen, die positiven, neben Erscheinungen eines
intellektuellen Schwachsinnes mäßigen Grades, ein vollständiger Mangel der sittlichen
und rechtlichen Gefühle, eine völlige Depravation des Charakters mit verbrecherischen
unsittlichen Trieben und Strebungen.
Der intellektuelle Schwachsinn giebt sich in Unfähigkeit zu einer geordneten
Thätigkeit, zu einem wirklichen Lebensberuf, in Beschränktheit des Urtheils, geringer
Aktivität und Energie, Einsichtslosigkeit nicht blos in das Unsittliche, sondern auch
positiv Verkehrte, den eigenen Interessen Schädliche des Thuns, in Unbesonnenheit
bei der Ausführung verbrecherischer Handlungen, wenn sie auch vielfach den Stempel
der List und Bosheit an sich tragen, kund.
Der moralische Defekt im Mangel aller sozialen Gefühle, in Roheit, Grau-
samkeit, Gleichgültigkeit gegen sittliche Werthschätzung durch Andere, Reuelosigkeit.
Die unterscheidenden Merkmale solcher entarteten Individuen vom Gewohn-
heitsverbrecher können nur durch den Nachweis einer Hirnerkrankung geliefert werden.
Die Monstrosität ihrer Handlungen, die Unwiderstehlichkeit, Absurdität ihrer
Triebe, die Spontaneität und Plötzlichkeit, mit der diese sich regen, die Unvorsichtig-
keit, Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, mit der sie befriedigt, der Cynismus, mit dem
sie zur Schau getragen und eingestanden werden, die Machtlosigkeit aller erziehenden,
bessernden Einflüsse, haben nur Bedentung, wenn jener Beweis erbracht ist.
Wir schöpfen ihn außer dem Nachweis der diesem Degenerationszustand zu
Grunde liegenden Ursachen aus Folgendem:
1) Es finden sich vielfach Funktionsstörungen und körperliche Infirmitäten in
der Sphäre des Nervensystems, die theils als angeborene Hemmungsbildungen