Zurechnungsfähigkeit. 1461
(Schädelanomalien, Klumpfuß, Hasenscharte, Wolfsrachen, Schielen, Verbildungen
der Geschlechtsorgane), theils als ab und zu im Verlauf sich zeigende Symptome
(große Geneigtheit zu Hirnerkrankung, Kongestionen, geringe Toleranz gegen Alkohol,
abnorme Gemüthsreizbarkeit, pathologische Affekte, krankhafter Stimmungswechsel,
epileptische Erscheinungen ꝛc.) den allgemeinen Nachweis einer dagewesenen oder noch
fortbestehenden Erkrankung des centralen Nervensystems ermöglichen. Bemerkenswerth
ist auch das häufige Vorkommen von Nervenkrankheiten und Irrsinn bei den Nach-
kommen. 2) Der Geschlechtstrieb ist oft früh excessiv und nicht selten pervers,
insofern die Befriedigung auf natürlichem Wege perhorreszirt wird und im eklen
Trieb zum eigenen Geschlecht ein Aequivalent findet oder die Wollust bis zur
Mordlust sich steigert. 3) Es treten direkt aus der Hirnerkrankung herausgesetzte
spontane, impulsive, vielfach perverse Antriebe zu theils einfach bizarren, theils un-
sittlichen und verbrecherischen Handlungen (Alkohol= und sexuelle Excesse, Diebstahl,
Vagabondage) und, was besonders wichtig, nicht selten periodisch auf.
Die Stellung solcher Entarteten zur Gesellschaft und zum Recht ergiebt sich
aus der Thatsache, daß bei ihnen das Strafgesetz nur die Bedeutung einer polizei-
lichen Vorschrift hat und das schwerste Verbrechen ihnen von ihrem eigenartigen
inferioren, nur logische Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit verwerthenden
Standpunkt nicht anders erscheint, als einem ethisch normalen Menschen die Ueber-
tretung einer einfachen polizeilichen Verordnung. Solche Menschen sind nicht irre
im landläufigen Sinne des Wortes, aber pspychisch degenerirt. Statt ihrer Z., deren
Vorhandensein oder Umfang noch lange Gegenstand der Kontroverse bilden wird,
wäre es besser und praktischer, blos von ihrer Gemeingefährlichkeit zu reden. Leider
besteht diese durchs ganze Leben, denn die Degeneration ist nicht zu beseitigen.
III. Geisteskrankheiten. Die häufigste Ursache der fehlenden Z. sind
Geisteskrankheiten, d. h. Krankheiten des Gehirns mit vorwaltenden Störungen der
psychischen Funktionen. Diese können sehr mannigfaltig sein. Am besten gekannt
und gewürdigt sind die Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen. Indessen giebt
es viele Fälle, wo sie fehlen und das Krankheitsbild durch bloße formale Störungen
des Vorstellungsprozesses in Verbindung mit affektartigen Zuständen sich kundgiebt.
In der Regel werden die Geisteskrankheiten nach psychologischen Prinzipien
eingetheilt. Man unterscheidet Gemüthskrankheiten, bei denen vorwiegend
das Fühlen und Streben der Kranken affizirt, die Störung im Vorstellen nur eine
sormale ist und etwa sich bildende Wahnvorstellungen nicht fixirt werden, gegenüber
den Geisteskrankheiten im engeren Sinne, wo vorwiegend die Intelligenz noth-
leidet, sei es durch dauernde Verfälschung des Bewußtseins mit Wahnideen, sei es
durch Zerstörung des ganzen psychischen Mechanismus und der Einheit der Per-
sönlichkeit. Insofern Gemütkhsleiden diesen geistigen Schwächezuständen voraus-
zugehen pflegen, bezeichnet man auch wol jene als primäre, diese als sekundäre
Irreseinszustände. Die primären zerfallen, je nachdem der herrschende Affekt ein
depressiver oder expansiver ist, in die Formen der Melancholie oder Manie. Den
Uebergang zu den psychischen Schwächezuständen bildet der Wahnsinn. Die
frühere Persönlichkeit ist hier in eine neue krankhafte umgewandelt, aber die Einheit
der psychischen Prozesse ist erhalten, auch sind noch lebhafte Affekte möglich. Sind
diese beiden Voraussetzungen nicht mehr vorhanden, so bezeichnet die Psychiatrie den
Zustand als Verrücktheit. Geht endlich die Koordination der psychischen Akte,
das Vermögen Vorstellungen zu reproduziren, kombiniren, realisiren, ganz verloren,
so spricht man von Blödsinn.
Die Aufhebung der 3Z. Geisteskranker ist vom Gesetzgeber anerkannt (§ 51
Deutschland, § 2 Oesterreich, § 64 Frankreich). Die Fortdauer des Unterschei-
dungsvermögens schließt Geisteskrankheit nicht aus; das Moment, auf das es
wesentlich hier ankommt, ist die zweite Grundbedingung der Z., die freie Willens-
bestimmung. Ihr Fehlen beim Irren wird aber bedingt: a) dadurch, daß durch