Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

104 Reichsteg. 
großen Versammlung wählen, sondern weil wir viele einzelne Parlicularver= 
sammlungen haben und daß gerade dies zu einer Abstumpfung des politischen 
Interesses führe, und daß es daher aus diesem Grunde gerade im Interesse 
der freiheitlichen Entwickelung wünschenswerth wäre, die Legislaturperiode 
etwas zu verlängern. Meine Herren, wenn auch dieser Gedanke gewiß etwas 
Richtiges hat, so wird er doch über wogen durch die Rücksicht, daß die 
größte Gefahr für uns darin liegen würde, daß die Stimmung, in welcher 
das allgemeine Wahlrecht operirt behuss der Wahlen zum Reichstag, wesent- 
lich verschieden wäre von der Strömung in den Massen zur Zeit der Wah- 
len fUr die Einzellandtage. Die größte Gefahr unserer einheitlichen Ent- 
wickelung liegt darin, daß Gegen sätze entstehen, die an sich schon sehr 
nahe liegen zwischen Einzellandtagen und dem Reichstage, daß 
namentlich ein Gegensatz entsteht und erhalten wird zwischen dem Preußi= 
schen Abgeordnetenhause und dem Reichstage. Diese Gefahr wird 
aber, meine Herren, ich bitte Sie das wohl zu erwägen, diese Gefahr wird 
verdoppelt werden, wenn die Legis laturperioden andere find für 
die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhause als zum Reichstage. Es 
würde eine viel größere Garantie eines gleichartigen Auffassens der politischen 
Fragen vorliegen, wenn die Volkeströmung und die Volksstimmung, die beide 
Kammern schafft, — wenn die eine gleichartige ist, als wenn sie eine verschledene 
ist. Nun leben wir aber, meine Herren, heute in einer rasch lebenden 
Zeit, zwei Jahre, drei Jahre sind colossale Differenzen, es kann die poli- 
tische Lage und die politische Auffassung einer Nation — ich erinnere nur 
an die Ergebnisse des Jahres 1866 — vollständig verändert werden in einem 
Zeitraume von drei Jahren, selbst wenn außerordentliche Erelgnisse, wie wir 
sie im Jahre 1866 gehabt haben, nicht dazwischen treten. Es kann daher 
sehr wohl sein, daß die gan ze Anschauung der Nation zur Zeit 
der Wahl des Parlaments eine andere ist als zur Zeit der Wahl 
der Einzellandtage. Wir werden dann Einzellandtage mit ganz anderen 
Tendenzen und politischen Anschauungen und Auffassungen operiren sehen 
wie das Parlament. Man kann nun sagen, meine Herren, und das 
wlirde allerdings dies Uebel mildern, daß die Regierung und die Regierungen 
es in der Hand haben, durch Auflösung der Versammlung das Niveau 
wieder herzustellen. Da erinnere ich aber daran, daß nicht Einzelregie- 
rungen, sondern die Mehrheit der Einzelregierungen, der 
Bundesrath, die Auflösung bestimmt; nicht einmal die Krone 
Preußen kann das Parlament auflbsen, was ich sehr bedaure, 
sondern die Auflösung ist ein Recht des Bundesraths; selbst wenn die Krone 
Preußen ein Interesse dabei hätte, einen neuen Reichstag zu schaffen, hat fie 
das nicht unbedingt in der Gewalt, weil nicht Preußen, soudern der Bundes- 
rath Über die Auflösung des Reichstages disponirt, sodann aber, und ich 
glaube das hier ossen aussprechen zu können, selbst ohne diejenigen Herren 
hier zu choquiren, die vorzugsweise die Selbstständigleit der Einzelstaaten auch
	        
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