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großen Versammlung wählen, sondern weil wir viele einzelne Parlicularver=
sammlungen haben und daß gerade dies zu einer Abstumpfung des politischen
Interesses führe, und daß es daher aus diesem Grunde gerade im Interesse
der freiheitlichen Entwickelung wünschenswerth wäre, die Legislaturperiode
etwas zu verlängern. Meine Herren, wenn auch dieser Gedanke gewiß etwas
Richtiges hat, so wird er doch über wogen durch die Rücksicht, daß die
größte Gefahr für uns darin liegen würde, daß die Stimmung, in welcher
das allgemeine Wahlrecht operirt behuss der Wahlen zum Reichstag, wesent-
lich verschieden wäre von der Strömung in den Massen zur Zeit der Wah-
len fUr die Einzellandtage. Die größte Gefahr unserer einheitlichen Ent-
wickelung liegt darin, daß Gegen sätze entstehen, die an sich schon sehr
nahe liegen zwischen Einzellandtagen und dem Reichstage, daß
namentlich ein Gegensatz entsteht und erhalten wird zwischen dem Preußi=
schen Abgeordnetenhause und dem Reichstage. Diese Gefahr wird
aber, meine Herren, ich bitte Sie das wohl zu erwägen, diese Gefahr wird
verdoppelt werden, wenn die Legis laturperioden andere find für
die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhause als zum Reichstage. Es
würde eine viel größere Garantie eines gleichartigen Auffassens der politischen
Fragen vorliegen, wenn die Volkeströmung und die Volksstimmung, die beide
Kammern schafft, — wenn die eine gleichartige ist, als wenn sie eine verschledene
ist. Nun leben wir aber, meine Herren, heute in einer rasch lebenden
Zeit, zwei Jahre, drei Jahre sind colossale Differenzen, es kann die poli-
tische Lage und die politische Auffassung einer Nation — ich erinnere nur
an die Ergebnisse des Jahres 1866 — vollständig verändert werden in einem
Zeitraume von drei Jahren, selbst wenn außerordentliche Erelgnisse, wie wir
sie im Jahre 1866 gehabt haben, nicht dazwischen treten. Es kann daher
sehr wohl sein, daß die gan ze Anschauung der Nation zur Zeit
der Wahl des Parlaments eine andere ist als zur Zeit der Wahl
der Einzellandtage. Wir werden dann Einzellandtage mit ganz anderen
Tendenzen und politischen Anschauungen und Auffassungen operiren sehen
wie das Parlament. Man kann nun sagen, meine Herren, und das
wlirde allerdings dies Uebel mildern, daß die Regierung und die Regierungen
es in der Hand haben, durch Auflösung der Versammlung das Niveau
wieder herzustellen. Da erinnere ich aber daran, daß nicht Einzelregie-
rungen, sondern die Mehrheit der Einzelregierungen, der
Bundesrath, die Auflösung bestimmt; nicht einmal die Krone
Preußen kann das Parlament auflbsen, was ich sehr bedaure,
sondern die Auflösung ist ein Recht des Bundesraths; selbst wenn die Krone
Preußen ein Interesse dabei hätte, einen neuen Reichstag zu schaffen, hat fie
das nicht unbedingt in der Gewalt, weil nicht Preußen, soudern der Bundes-
rath Über die Auflösung des Reichstages disponirt, sodann aber, und ich
glaube das hier ossen aussprechen zu können, selbst ohne diejenigen Herren
hier zu choquiren, die vorzugsweise die Selbstständigleit der Einzelstaaten auch