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unter dem Richtig,Theoretischen das zu verstehen ist, was geschöpft ist aus
einer weiten und großen Ersahrung. Für eine derartige practische Be-
handlung des öffentlichen Lehens möchten wir uns im Ernste doch allesammt be-
danken. Wenn Sie auf diese Weise, meine Herren, durch die Ablehnung
der Diäten unser öffentliches Leben verderben, so werden Sie andererseits
auch noch tiefer eingreifend verderblich wirkeu. Denn vergessen Sie das nicht:
sobald Sie den Besitz eines Vermögens für etwas Nothwendiges erklären
zur Wirksamkeit im öffentlichen Leben, so zerstören Sie auch das Leben von
ungähligen edlen Gelehrten unseres Vaterlandes. Denn heutigen Tages sind
eben unfre tüchtigsten und besten gelehrten Männer solche, die auf das Geld
nichts geben und nichts geben wollen, die nur das Nothwendigste haben
wollen; für Andres haben sie keine Zeit und wollen sie keine Zeit haben.
Aber sobald Sie die Wirksamkeit im öffentlichen Leben vom Geld abhüngig
machen, so zwingen Sie auch unsere besten Männer dazu, mehr zu erwerben,
als sie sonst erwerben, als sie sonst erworben haben würden, um für das
öffentliche Leben wirkfkam werden zu können; und so vergiften Sie unser
Deutsches Leben dadurch. Ich behaupte also, meine Herren, daß Sie durch
Streichung der Diäten die schmählichste aller Aristokratlen fördern werden,
nämlich die Aristokratie des Geldes. (Heiterkeit.) Nun, meine Herren, ich
bin demnach für das uns vorliegende Amendement. Ich will nur
noch mit ein Paar Worten um Eins bitten. Wenn Sie das Amende-
ment nicht annehmen wollten, dann streichen Sie doch wenigstens
den Artikel 29; streichen Sie ihn ganz, lassen Sie die Frage unentschie-
den! Sprechen Sie mit dem Artikel 29 nicht etwas aus, was in seinen
Folgen sich als höchst unheilbringend zeigen wird. Denn, meine Herren,
wozu ein Gesetz geben, das so leicht zu umgehen ist? Sie werden sagen,
jedes Gesetz könne leicht umgangen werden — das ist eine Thatsache; aber
die Sache ist hier die, daß es nicht die schlechtesten Leute wären, die Sie
hier dazu reizen, das Gesetz zu umgehen, und das ist die Klippe, vor der
ich Sie, meine gerhrten Herren, warnen möchte. Der Artikel 29 — darüber
werden wir ja nicht im Zweifel sein können — ist nicht in Uebereinstim-
mung mit unsern Sitten und mit der öffentlichen Meinung; aber unter den
Gesetzen, welche eben in dieser Uebereinstimmung nicht sind, haben wir zwei
sehr verschledene Klassen zu unterscheiden, nämlich diejenigen Gesetze, welche
der Sitte und der öffentlichen Meinung voraus sind und gewissermaßen
angiehend wirken sollen, und diejenigen Gesetze, die hinter der Sltte und
der öffentlichen Meinung zorlck sind, die reactionair sind, die verderblich
wirken, und für beide lassen Sie mich ein Beispiel bringen. Zu den erste-
ren, zu denjenigen, welche anziehend wirken, rechne ich zum Beispiel zwei
Gesetzgebungen aus dem Anfange dieses Jahrhunderts für Preußen: das
Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht und das Gesetz Üüber den Schulzwang.
Ganz bestimmt waren beide Gesetze nicht in Uebereinstimmung mit der da-
maligen Sitte und nicht in Uebereinstimmung mit der damaligen öffentlichen