Artikel 20 21. Planck. Sybel. 43
hat schon auf manche ihrer Wünsche verzichten müssen. Die Beschlusse,
welche gestern und vorgestern gefaßt worden sind, lassen uns besorgen, daß
sogar manche Bestimmungen darin fehlen werden, welche wir für nothwendig
halten. Ich glaube nicht, daß es im Interesse des Hauses und des Zustande-
kommens dieses Entwurfes liegt, daß durch Anträge, wie der vorliegende,
die Verfassung noch verschlechtert werde.
Dr. v. Sybel aus Bonn (Lennep. Metktmann)?). Meine Herren, ich
empfinde die Schwierlgkeit, in so vorgerlickler Stunde zu einem zum Theil
amüdeten Hause Über so wichtige Dinge zu reden. Ich empfinde das doppelt,
indem ich hier eine Stellung einnehme und vertreten möchte, die, wie ich
mir nicht verbergen kann, durch die beiden vielleicht stärksten Strömungen
in diesem Hause gleichmäßig angegriffen wird. Indeß, meine Herren, wenn
der Herr Abgeordnete für Neustettiu uns ermahnte, gegen die Be-
stimmungen dieser Verfassung so viel wie möglich keinen Widerspruch zu
erheben und dies nur dann zu thun, wenn eine Gewissenssache für uns
vorläge, so muß ich bekennen, ich befinde mich in diesem Falle. Für mich
ist es eine Gewissenssache, meine schwache Stimme hier zu erheben
gegen die Proclamation des allgemeinen directen und gleichen
Stimmrechts. Es ist für mich eine Gewissenssache, nachdem ich mich
mein Leben hindurch fort und fort zu den Grundsätzen der liberalen An-
schauungen, zu den Bestrebungen des parlamentarischen Staates be-
konnt habe. Soweit meine historische Erfahrung reicht, ist die
Ausfahrung des allgemeinen, directen und gleichen Wahlrechts
für legliche Art des Parlamentarismus immer der Aufang vom
Ende gewesen. Soweit meine philosophische und politische Meditation
riicht, ist diejenige Wendung der liberalen Theorie, welche in dem allgemei-
nen Stimmrecht den nöthigen Ausdruck der vollkommensten Staatssorm sieht,
nichts Anderes als eine sophistische und völlige Verbiegung der wahren libe:
ralen Grundsätze, eine Verwechselung der beiden für alle menschlichen Ge-
schicke so tief einschneidenden Begriffe der Gleichheit und der Freiheit, eine
Verwechselung des idcalen Zieles mit den successive zu durchschreitenden
Mittelstufen zu diesem Ziele hin. Der Herr Abgrordnete Waldeck sagte,
wenn ich nicht irre, gestern: Das allgemeine, directe und gleiche Stimm-
recht könne nur dann selnen vollen Segen entfalten, wenn in dem be-
treffenden Staate alle Einrichtungen gut seien, wenn man elne gute
Administration und Jurisdiction, wenn man eine gute Gemeindeverfassung,
wenn man eine vollständig entwickelte Preßsreiheit habe, wenn der Staat
Überhaupt gut und tüchtig organisirt set. Ich glaube, er hätte hinzu-
seben können: Dos allgemeine directe und gleiche Stimmrecht könne nur
dann segensreiche Wirkungen entfalten, wenn nicht bloß in dem Staate,
*) St. Ber. S. 426.