Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band II (2)

56 Neichsteg. 
Dr. Meyzer (Thorn-Culm) ). Meilne Herren, ich bin zunächst — und 
das wird der erste Satz sein — für die Annahme des allgemeinen, 
directen, allerdings gehelmen Wahlrechts als Grundsatzes in unserer 
Verfassung. Ich bin dafür nicht aus einem theoretischen Grunde. Die 
Begrlndung des allgemelnen Wahlrechts auf das allgemeine Menschen- 
recht im Jahre 1848 scheint mir ebensowenig den Punkt zu treffen, als 
die Begründung, die wir heute gehört haben, auf die allgemeine Menschen- 
pflicht, nämlich die Pflicht, den Staat zu vertheidigen. Das ist Beides 
Theorie und zwar, wie ich glaube, sehr graue Theorie. Aber weiter! 
Ich glaube auch nicht, meine Herren, daß gewissermaßen das allge- 
meine directe Wahlrecht mit der historischen Entwickelung der 
Deutschen Einheit in einem nothwendigen und ursachlichen Zu- 
sammenhange steht. Denn, meine Herren, zwar ist im Jahre 1849 
ein Wahlgesetz mit der Reichsverfassung verbuuden, welches das allgemeine 
directe Wahlrecht sanctionirt, allein, meine Herren, dies Wahlgesetz 
war bisher niemals practisch geworden, und die Versammlung 
selbst, die es gab, beruhte nicht auf dlesem Prlncip, sondern sie be- 
ruhte auf dem allgemeinen indirecten Wahlrecht. Ich glaude, 
für die Annahme desjenigen Princips, welches unfre Vorlage enthält, 
war Überhaupt nicht die politische Theorie maßgebend, sondern, wenn ich 
mich so ausdrücken darf, die Experimentalpolitik. Die Experimente 
senseits des Rheins ließen es vielleicht wünschenswerth erscheinen, es hier 
auch zu probiren, wobei ich nur wlinsche, daß die Erwägung dabei fern ge- 
blieben ist: erxperimentum fiat in corpore vili. Meine Herren! Sie wissen, 
das allgemeine Wahlrecht setzt vor allen Dingen eine genaue Bekanntschaft 
mit der Aufgabe voraus, die im gegebenen Moment von den Wählern zu 
lösen ist. Nun wir wissen und wir haben gehört, daß es möglich gewesen 
ist bei dieser Wahl, beispielsweise in Hannover, in einigen Gegen- 
den den Wählern vorzureden, es handle sich darum, ob sie Han- 
növerisch oder Preußisch sein wollten, und der Herr Präfident der 
Bundescommissarien hat Ihnen gesagt, und ich kann das aus eigenster Er- 
fahrung bestätigen, daß in den Gegenden gemischter Deutscher und Polni- 
scher Zunge den Leuten vorgeredet worden ist, es handle sich um das 
Bestehen ihrer katholischen Religion und wer jetzt einen Deutschen 
wähle, gefährde die Interessen seiner Religion. Meine Herren, man sleht, 
nach diesen Erfahrungen giebt es in verschiedenen Gegenden 
noch Möglichkeiten, die bei Einführung des allgemeinen directen Wahl- 
rechts einen gewissenhaften Politiker wohl schwankend machen können. 
Meine Herren, wenn wir das allgemeine directe Wahlrecht aber 
dennoch annehmen, so thun wir es, weil wir es für eine natio- 
nale Pflicht halten. Die nationale Partei nimmt den Kampf 
  
St. Ber. S. 431.
	        
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