Friedenthal. Zehmen. 1065
gewissen künstlichen Deduktionen die Grenze in einzelnen Fällen erweitern
muß, so daß allmälig aus kleinen Grenzerweiterungen eine vollständige
Grenzverrückung wird. Ein solches Verfahren, meine Herren, beruht auf
Schein, und ich halte für das Allergefährlichste im Staatsleben immer den
Schein. Man kann sich mit allen Dingen abfinden, wenn sie ehrlich und
fest gehalten werden, und das gerade nenne ich konservativ. Meine Herren,
wenn ich nun daron ausgehe, daß zunächst der Bund formell vollkommen
kompetent ist, diesen Antrag anzunehmen, und wenn ich zweitens mir erlaubte,
Ihnen auch einige Motive dafür anzuführen, daß es für den Bund noth-
wendig ist, und daß es die Wohlfahrt des Bundes hebt, diesen Antrag an-
zu nehmen, so komme ich auf einen dritten und letzten Punkt: daß wir hier-
bei innerhalb des Rahmens der Bundesverfassung bleiben, daß wir dem Ge-
danken dienen, aus dem die Bundesverfassung hervorgegangen ist. Die
Bundesverfassung will Deutschland im Norddeutschen Bunde schützen, die
Wehrkraft organisirend, sie will die Deutsche Wohlfahrt dadurch begründen,
daß sie die materiellen Hilfsquellen eröffnet und befreit, indem sie unnatür-
liche Schranken niederreißt; sie will aber auch ein einheitliches Rechtsleben
begründen. Hätte sie das nicht gewollt, dann hätte sie nimmermehr das
Obligationenrecht, das Strafrecht, das Handelsrecht, das Wechselrecht auf-
nehmen können, dann hätte nimmermehr die Königlich Sächsische Regierung,
der wir alle den größten Dank dafür schuldig sind, einen obersten Gerichts-
hof beantragen können, wie sie das in unserm Sinne und von unserm Bei-
fall begrüßt gethan hat. Wollen Sie aber die Einheit des Deutschen Rechts-
lebens wiederherstellen, die wir seit Jahrhunderten verloren haben und die
wir Alle ersehnt haben, die ein Traum unserer Universitätsjahre war, wenn
wir uns dem Chaos der Partikularrechte gegenüber befanden, — dann wollen
wir diesen Antrag annehmen, und wir werden uns dabei auf dem Boden
befinden, den unsere Bundesverfassung im Eingange ausdrücklich anerkennt,
da, wo es heißt: Die Deutschen Fürsten sind zusammengetreten und
„schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und
des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der
Wohlfahrt des Deutschen Volkes;“ dieser Vertrag, meine Herren, hat die
dreifältige Natur der Bundeszwecke ausdrücklich ausgesprochen, und in dem
Sinme bitte ich Sie, meine Herren, lassen Sie uns dafür sorgen, daß bald
ein Deutsches einheitliches Recht gilt, das unsere Deutschen Fürsten im Bunde
schützen wollen! (Lebhaftes Bravol)
v. Zehmen (Meißen 2#.):!) Meine Herren! Es ist doch eine eigen-
thümliche Erscheinung, daß kurz hintereinander zwei Anträge von derselben
Partei eingebracht werden, die unverkennbar sehr tief in die ganzen Ver-
hältnisse des Norddeutschen Bundes eingreifen, ja die eine Tragweite haben,
54 St. B. S. 453 l. u.