Dr. Braun. 1089
auch legislativ thätig sein, sie dürfen nur nicht gegen diejenigen Bundes-
gesetze verstoßen, die bereits erlassen sind; sobald aber auf diesem Gebiete
ein Bundesgesetz noch nicht erlassen ist, dann haben sie ja ganz freie Hand,
und die Gesetze, die sie machen, gelten ja alle so lange, bis dereinst einmal
unter Mitwirkung eben dieser Einzelstaaten ein Bundesgesetz zu Stande
kommt. Ich will Ihnen dafür ein ganz schlagendes Beispiel anführen, daß
diese Regel eristirt, und daß sie Niemand besser bekannt ist, als der Königlich
Sächsischen Regierung, die davon den ausgedehntesten Gebrauch macht. Ich
erinnere Sie daran, meine Herren, daß in dem Artikel 4 unserer Verfassung
steht, daß das Strafrecht zur Kompetenz des Reichstags des Bundes gehört;
ich erinnere Sie daran, daß der Reichstag beschlossen hat, ein Bundesstraf-
gesetztuch zu erlassen, daß der Bundesrath dem zugestimmt hat und zwar
mit dem Konsens des Vertreters der Königlich Sächsischen Regierung.
Und was thut die Königlich Sächsische Regierung, nachdem alles das ge-
schehen ist, und ehe das Bundesgesetzbuch, welches bekanntlich in Vorarbeit
ist, edirt ist? Nachdem der Bundesrath beschlossen hat, ein Bundesstrafgesetz-
buch zu Stande zu bringen, nachdem er Requisitionenen in diesem Sinne
an sämmtliche Territorial-Regierungen erlassen hat, nachdem er einen ange-
sehenen Gelehrten mit der Abfassung des Gesetzbuches beauftragt hat, ich
glaube sogar, nachdem dieser Gelehrte — oder der Herr Justizminister, ich
weiß nicht wer — darüber bereits dem Bundesrath Rechenschaft abgelegt
hat, und der Bundesrath die Grundzüge, die vorgeschlagen waren, gut ge-
heißen hat, — während das Alles im Gange ist, erläßt die Königlich Säch-
sische Regierung am 10. Oktober v. J. ein Strafgesctzbuch für das König-
reich Sachsen, das in allen diesen Materien, womit der Bund und die
Bundesgesetzgebung bereits befaßt ist, demselben vorgreift, z. B. die Todes-
strafc abschafft, — wogegen ich materiell nichts habe, aber ich finde das denn
doch etwas — ich will es ganz gelinde anèedrücken — sonderbar (Heiterkeit),
daß am Vorabend des Zustandekommens eines Bundesstrafgesetzbuchs die
Königlich Sächsische Regierung ein eigenes Strafgesetzbuch für sich erläßt,
von dem sie gewärtigen muß, daß wenn morgen das Bundesstrafgesetzbuch
prublizirt wird, jenes aufgehoben oder wesentlich modifizirt wird. Ich will
Ihnen noch ein anderes weitergehendes Beispiel aus Sachsen anführen. Sie
wissen, daß hier im Reichstage der Abgeordnete Schulze-Delitzsch, der Vater
der Deutschen Genossenschaften, vorgeschlagen hat, ein Bundesgesetz über das
Genossenschaftsrecht zu erlassen auf der Basis, die durch das Preußische Gesetz
vom 27. März 1867 gewonnen ist, ein Gesetz, das sich in der Praxis
auf das Beste bewährt hat (mit Ausnahme einiger untergeordneter Punkte,
die auch im Bundebgesetze verändert sind). Sie wissen, meine Herren, daß
wir, der Reichstag, am 28. Mai 1868 mit enormer Majorität diesen Gesetz-
entwurf votirt haben; Sie wissen, daß der Vundesrath sofort sich bereit er-
klärte darauf einzugehen, nur noch ein Gutachten von der Ciril-Prozeß-
Kommission einholte, und dann am 19. Juni beschloß, dem Gesetzentwurf