356 Verträge 1870. Dritte Berathung.
dieser Erfüllung der nationalen Zwecke Deutschlands, diese erste Bedingung
— sie ist das Volkébewußtsein als solches. Ich habe bei einem unserer
größten, nationalsten uud unbestrittensten Patrioten und Philosophen ge-
lernt, daß das Volkssein, die Volkseinheit ausschließlich be-
stehe in dem Umfassen und Ausschließen eines geschichtlichen
Selbst. Wenn das, meine Herren, der Fall ist, dann gestehe ich auf-
richtig, daß ich nicht weiß, in welcher Weise, und daß ich für unmöglich
halte, daß überhaupt die gegenwärtig uns vorliegenden Verträge und die
Verfassung die Konstituirung der Volkseinheit in Deutschland er-
füllen sollen. Bisher, meine Herren, haben wir die Konföderation in
Deutchland, in allen Formen, unter allen Umständen und Bedingungen
erlebt, und wenn diese Verträge endlich, meine Herren, nicht aufs Neue
fortsetzen sollen die Föderation im schlimmsten und eigentlichsten Sinne
des Wortes, dann müssen dieselben im Stande sein, uns zu führen —
zur Volkseinheit! Aber, meine Herren, der Volkseinheit stehen aller-
dings entgegen die Hausinteressen derjenigen Familien, derjenigen Häupter,
welche „regiereude" in Deutschland sind. Die Hausinteressen der Fürsten
waren es, welche bis heute Deutschlaud zur Föderation verurtheilten. Die
Hausinteressen der Fürsten, welche niemals ihre Vortheile vermochten auf-
zugeben, diese Hausinteressen der Fürsten haben es dahin gebracht,
daß nicht mit Unrecht dem deutschen Volke das Recht, sich eine Nation zu
nennen, bestritten werden konnte. Und dennoch, meine Herren, sollen diese
Verträge uns aufs Neue die Föderation geben. Wie die Bourgeeisie der
Föderation gegenüber denkt, meine Herren, will ich nicht beurtheilen; aber
wie die sociale und nationale Demokratie denkt gegenüber der Thatsache,
daß man aufs Neue uns in eine in der Föderation kon stituirte so-
genannte „Volkseinheit“ führen will, das ist durchaus bekannt und klar,
das hat die Demokratie auszusprechen nicht gezögert — die Demokratie,
welche sehr wohl weiß, daß wir in der Föderation niemals zu
einer Volkseinheit kommen können, daß wir in der Föderation am
letzten Ende das Schicksal Griechenlands erleben werden, in welchem der
schon zu feste Einzelstaat die Einigung der Nation verhinderte und den
Untergang derselben herbeiführte. Und wenn wir die Ursachen suchen,
welche der nationalen Einheit im Wege stehen, sie in diesen Verträgen
suchen, und das auffalleudste der Beispiele herausgreifen, welche die Noth-
wendigkeit der Föderation uns beweisen, dann, meine Herren, finden wir
in dem zwischen Norddeutschland und Bayern geschlossenen Vertrage am
allerklarsten ausgesprochen die Bedingung. . .. (Waͤhrend der Rede herrscht
fortdauernde Unruhe.) Gestatten Sie mir, meine Herren. Sie zu erinnern
an den Artikel 29 der Verfassung, von welchem ich bereits neulich zu
sprechen die Gelegenheit hatte und welcher dahin lautet, daß jeder Ab-
geordnete, jedes Mitglied dieses Hauses, Vertreter ist „der
gesammten Nation!“ Ich weiß, meine Herren, daß ich bisher niemals
zu Ihnen gesprochen habe, ohne eine Demonstration gegen die Partei-