Bluntschli. 103
aber immerhin, die drei Königreiche zusammen haben die 14 Stimmen
schon für sich allein. Wenn man nun weiß, daß eine Fortbildung der Ver-
fassung wirklich nothwendig ist, so sieht man nicht gern, daß ein so starkes
Hinderniß in die Macht von ein paar Einzelstaaten gelegt wird. Ueber
diese Schwierigkeit kommt man, glaube ich, nur hinaus, wenn man auch
hier das Vertrauen behält an die natürliche Macht der Dinge. Wenn ein-
mal die große Majorität des Bundesrathes, wenn das Oberhaupt, wenn die
große Majorität des Reichstags eine Verfassungsänderung für nothwendig
crachten, dann können wir doch vertrauen, daß das schließlich auch den dreien
kllar wird, daß man dem nicht entgehen kann. Wir wollen vertrauen, daß
die Macht dieser anderen Factoren, ich möchte sagen, daß die moralische
Macht so groß sei, um wenigstens nach einiger Zeit das Hinderniß zu über-
winden. Eine gewisse Berechtigung hat aber die Bestimmung in der That.
Die Staaten, die in diesem Reich sind, haben ein Recht ihrer Existenz, ein
gewisses Recht, eine Garantie dafür zu verlangen, daß man nicht leichthin,
frivol, willkürlich sie beseitige, und in einen reinen Einheitsstaat einführe.
Alse gewiß: ein Mittel, um unter berechtigten Verhältnissen auch Oppo-
sition zu machen gegenüber von Verfassungsänderungen ist nöthig, ist un-
entbehrlich für die Existenz dieser Staaten. Etwas Wahres ist also auch
hier daran und wenn es mißbraucht werden sollte, so glaube ich, sind die
anderen Factoren stark genug, um den Mißbrauch zu bewältigen. Die Ver-
fassung hat aber durch die Verträge nicht blos Verschlimmerungen erfahren,
sondern meines Erachtens auch ein paar Verbesserungen und zum Schluß
gestatten Sie mir, auch dieser Verbesserungen zu erwähnen. Ich rechne da-
hin in der That schon die Bestimmung, daß die Competenz des Bundes sich
auch auf die Presse und Vereine erstreckt. Obwohl wir keinen Grund haben,
in diesem Land eine Aenderung der Gesetzgebung zu wünschen, so ist es doch
wichtig, daß die großen Dinge wirklich ein gemeinsames Interesse der gau-
jen deutschen Nation sind und nicht blos landesmäßig regulirt werden dür-
fen. Ja ich gestehe ganz offen, bei Gelegenheit der Presse habo ich noch enwas
Anderes auf dem Herzen, wovon ich glaube, daß es ganz gut ist, daß die
Presse erwähnt ist. Wenn man nänlich die Reichsverfassung studirt, so
wird man namentlich als Deutscher nicht ohne einige Verwunderung sich über-
eugen, daß die geistigen Interessen darin gar nicht erwähnt sind. Es ist
doch ganz unläugbar, daß bisher in der Entwickelung der Welt die deutsche
Nation auf dem Gebiet des Geistes das Größte geleistet hat. Die großen
heistigen Interessen der Gewissensfreiheit, der Bekenntniffreiheit, der wissen-
schaftlichen Gorschungen und Thätigkeit, einer hohen und allgemeinen Bildung,
einer Kunstentwickelung, — alle diese Interessen sind wahrhaft keine Landes-
interessen, keine provinzialen, sondern in ganz specifischer Weise deutsche
Interessen vom höchsten Belang, und es ist recht bedenklich, daß diese ganze
geistige Seite des deutschen Lebens bis jetzt in der Reichsrerfassung auch
nicht mit einer Silbe beachtet worden ist. Es ist das um so bedenklicher,
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