Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

428 Heßen. Zweite Kammer. 
werde. Denn was auch der Einzelne von seinem politischen Standpunkte 
aus gegen das neue Verfassungswerk einzuwenden haben mag, gleichviel ob 
es ihm als allzu centralistisch oder als allzu föderalistisch erscheine, so muß 
doch überall die Erwägung obsiegen: daß es vor Allem gilt, das gegenwärtig 
Erreichbare zu sichern und dem glorreichen Sieg über den äußeren Erbfeind 
der deutschen Nation den nicht minder glorreichen Sieg über den inneren 
Erbfeind, d. i. die Zwietracht der Meinungen, binzuzugesellen. Wenn es 
jetzt nicht gelänge, die verfassungsmäßige Einigung der deutschen Staaten 
zu vollziehen — welch' unabsehbare Folgen würden sich daran knüpfen!? 
Der schönste Siegespreis für alle die schweren Opfer, welche in dem Kriege 
mit Frankreich gebracht werden, er wäre in dem Augenblicke, da wir ihn 
mit Sicherheit zu erringen hofften, auf ungewisse Zeiten abermals unseren 
Händen entrissen. Der eine Tbeil der deutschen Nation würde dem andern 
die Schuld und Verantwortung zuwälzen; an die Stelle des gerechten Stolzes 
und der nationalen Befriedigung ob der errungenen Siege würden tiefgehende 
Verbitterung und demüthigender Mißmuth treten; der erhebenden und 
begeisterten Eintracht der Nation auf dem Schlachtfelde würde der zer- 
fressende Hadet im Lande als widerwärtiges Gegenbild folgen, und 
Niemand würde sich seines Anblickes mehr freuen als das feindliche 
und das „neutrale“ Ausland. In demselben Zeitpunkte, in welchem wir 
der Einigkeit und des festen Zusammenhaltens mehr denn je bedür- 
fcn, wäre der Grund zu neuer, gefahrbringender Zwietracht gelegt. Es 
gilt — wiederholt sei es betont — ohne Zögern das gegenwärtig Er- 
reichbare zu sichern, in der festen Ueberzeugung, daß es der bildenden Kraft 
der geeinigten deutschen Nation in der Zukunft gelingen werde, das zur 
Zeit unvollkommene Werk der Verfassung zu höherer Vollendung hinanzu- 
führen und wir dürfen — trotz aller theoretischen Bedenken — zu jener 
Sicherung um so bereitwilliger die Hand bieten, als das jetzt Erreichbare, wie 
jeder unbefangen Prüfende zugeben muß, doch immer noch die rasch ent- 
schlossene Besitzergreifung in hohem Maße verdient. Vertretung der 
deutschen Nation im Reichstage; im Wesentlichen einheitliche völkerrecht- 
liche Vertretung nach Außen; Uebereinstimmung, wenn auch nicht überall 
unbedingte Einheit, im Militärwesen; einheitliche Führung im Kriege; in 
den bedeutsamsten Beziehungen einheitliche Gesetzgebung, theils sofort er- 
reicht, theils angebahnt für die Zukunft; Einigung bezüglich der wichtigsten 
Verkehrs= und volkswirthschaftlichen Verhältnisse; Vertretung der Interessen 
der Einzelstaaten im Bundesrathe; an der Spitze des „Deutschen Reiches“ 
der „Kaiser", den wir nicht um mehr oder weniger romantischer Erinne- 
rungen willen, sondern gerade darum freudig begrüßen, weil schen sein 
Titel uns die Gewähr giebt, daß es sich bei Gründung des „Deutschen 
Reiches" nicht um die Hegemonie eines einzelnen deutschen Staates, sondern um 
die Gründung eines Reiches handelt, dem sich alle deutsche Staaten, der 
mächtigste mit inbegriffen, ihre particulare Selbstständigkeit unterordnend,
	        
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