Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

704 Baiern. Kammer der Abgeordneten. 
über gestellt, die ich heute noch als ein Experiment betrachte. Ich wünsche, 
daß sie zum Heile Deutschlands ausschlägt. Wenn das aber nicht der Fall 
ist, glauben Sie deun nicht, daß die Deutsche Nation aus sich selber heraus die 
Mittel fände, diesen Uebelstand zu beseitigen? Glauben Sie denn nicht, wenn 
ganz Deutschland der Ansicht ist, hierin liege eine Schädigung seiner Inter- 
essen, daß es die Mittel finden werde, diesen faulen Fleck aus dem eigenen 
Fleische herauszuschneiden? Ich bin überzeugt, die Deutsche Nation wird sich 
das nicht nehmen lassen und wird thun, was ihren Interessen angemessen 
ist. Vom Nationalitätenprinzipe war die Rede. Wer hat denn dieses Prinzip 
aufgestellt? Unser Feind! Und wer will es realisiren? — Etwa wir, indem 
wir dem Deutschen Bunde beitreten? O meine Herren, dem geehrten Herrn 
Vorredner gegenüber brauche ich nicht zu sagen, daß, wenn wir Alles, was 
Deutsch ist, in ein Reich vereinigen wollten, wir nicht etwa am Ende der 
Entwicklung stünden, sondern der ganzen Welt den Krieg erklären müßten. 
Das ist nicht der Sinn der jetzigen Vereinigung; ihr Sinn — und das ist 
viellcicht ihre größte Schwäche — ist nicht ein Idealismus, nicht das Stre- 
ben, etwas in sich Vollendetes hinzustellen, sondern die Verträge, wie sie 
liegen, sind das Produkt der gegebenen Verhältnisse, die Manchen unange- 
nehm berühren können, die aber dessen ungeachtet existiren und ihre Existenz 
zur Geltung bringen in diesen Verträgen. Zu wenig Idealismus ist in 
dem neuen Verfassungswerke, das gebe ich dem Herrun Redner mir gegenüber 
zu, aber auf das Prinzip der Nationalität ist dieser Vertrag nie und nimmer 
getzründet. Man hat uns, um uns vor den Folgen dieses Systems zu war- 
nen, die Zustände in Italien entgegengehalten. Ja, meine Herren, es wird 
doch Niemanden entgehen, daß wir bei., der Reconstituirung Deutschlands 
gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen haben, den Italien einschlug. 
Was thun wir? Jagen wir die Fürsten fort, machen wir Revolution, werfen 
wir die Throne über den Haufen? Nein, im Gegentheile, wir lassen das Be- 
stehende, wir vereinigen nur die Macht des Bestehenden da, wo es nöthig 
ist, um das Ziel der Nation zu erreichen, zu einem gemeinsamen Handeln. 
Wir lassen das Bestehende aufrecht, aber es fällt uns nicht ein, einen Ein- 
heitsstaat gründen zu wollen, wie ihn Italien gegründet hat. Und wenn 
man Ihnen immer sagt, es werde der Einheitsstaat aus diesen Verträgen, 
so mechte ich doch Eines Ihnen Allen ins Gedächtniß rufen. Woran hat 
denn die Deutsche Nation bisher gekrankt? Etwa an ihrer zu großen Centri- 
petalneigung? Nein, im Gegentheile, das Unglück Deutschlands war die 
überwiegende Centrifugalkraft, und weil diese Centrifugalkraft die Bande 
auseinandergerissen hat, die Deutschland für ein Jahrtausend verbunden haben, 
und weil wir einsehen, daß wir unter diesen Umständen unser Ziel nicht er- 
reichen, deshalb streben wir wieder ein Band zu suchen, das dieser nationalen 
Centrifugalkraft einigermaßen Stand hält. Glauben Sie denn, meine Her- 
ren, daß einige Verfassungsparagraphe die Natur eines Volkes, ihre innersten 
Lebensbedingungen vernichten können? Oder glauben Sie, daß heute auf dem
	        
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