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Einheit, nach einem einheitlichen Staatsleben ging aber in denjenigen Völ-
kergruppen, die die ganze moderne curopäische Entwicklung tragen, in sehr
verschiedener Weise vor sich. Er machte sich verhältnißmäßig sehr leicht bei
den romanischen Völkern, deren Charakteranlage überhaupt zur Unterordnung,
zur Centralisation sich hinneigt; er stieß aber auf die größte Schwierigkeit
bei den Völkern germanischer Race. Denn der Trieb nach Besonderung, der
Trieb nach Vereinzelung, ist ein Charakterzug unseres deutschen Volkswesens.
Aus diesem Centrifugaltriebe unseres Charakterzuges gehen aber unsere schön-
sten Tugenden und unsere größten Fehler hervor, er beherrscht unsere ganze
Geschichte, er ist die Veranlassung der glänzendsten Perioden unserer Ge-
schichte aber auch der größten Schmach, der größten Erniedrigung, die über
Deutschland kommen konnte, weil er Deutschland in tausend Theile zu zer-
reißen vermochte. Nachdem nun der Trieb nach Besonderung, diese centri-
fugale Kraft das äußerste Ziel erreicht hatte, da ist allerdings eine rück-
läufige Bewegung in der deutschen Nation eingetreten, und es ließ sich
schon damals voraussehen, daß es nur dann gelingen werde, eine Wiederver=
einigung der getrennten Stämme zu schaffen, wenn man im Stande ist,
diesen übermächtigen Trieb des Auseinandergehens durch eine starke Central-
gewalt zu beschränken, und daß nur dann die nationale Einheit gefunden
und gewonnen werden könne. Meine Herren! Das beweist auch die Ge-
schichte der Wiedervereinigungs-Versuche der Deutschen Nation. Eine Menge
von Versuchen sind nicht geglückt und mußten mißglücken, weil diese starke
Centralgewalt nicht geschaffen werden konnte, die diesen übermächtigen Trieb
der Besonderung zu beschränken oder aufzuheben vermochte. Es liegt auch
in der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes noch ein anderer
merkwürdiger Zug, daß wir im Frieden am allerwenigsten zu solchen Werken
der Einigung zu kommen vermögen. Je mehr wir Frieden haben, desto
mehr gehen unsere Anschauungen auseinander, desto mehr sondern wir uns
von einander ab; seit den Zeiten des Tacitus führt nur der Krieg uns unter
Einen Hut. Und so geschah es auch jetzt wieder. Mit dem Kriege von
1866, der ganz Deutschland in seinen Grundtiefen aufwühlte, ist plätzlich
ein mächtiger Ansatz zu staatlicher Weiedervereinigung Deutschlands zu Tage
getreten. Aber, meine Herren, dieses staatliche Gebilde, das uns damals in
dem Norddeutschen Bunde entgegen trat, dieses Gebilde enthielt die
centrale Macht besser, die centrale Uebermacht in einer so stark hervortreten-
den Weise, daß wir darin abermals kein Heil für Deutschland erblicken
konnten. Denn aufgehoben, gänzlich aufgehoben, vernichtet und unterdrückt
darf dieser Grund und Charakterzug des deutschen Wesens, das Recht der
freien Selbstbestimmung, nicht werden; beschränkt muß er werden, aber
aufgehoben werden darf er nicht. Diese übermächtige Centralgewalt be-
drohte alle noch in einer gewissen Selbständigkeit bestehenden Einzelnstaaten,
soweit sie noch nicht von ihren eisernen Klammern erfaßt waren, mit der
Gefährdung ihrer Existenz, und es bildete sich zur Abwehr dieser Gefahr eine
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