Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

Huttler. 755 
Einheit, nach einem einheitlichen Staatsleben ging aber in denjenigen Völ- 
kergruppen, die die ganze moderne curopäische Entwicklung tragen, in sehr 
verschiedener Weise vor sich. Er machte sich verhältnißmäßig sehr leicht bei 
den romanischen Völkern, deren Charakteranlage überhaupt zur Unterordnung, 
zur Centralisation sich hinneigt; er stieß aber auf die größte Schwierigkeit 
bei den Völkern germanischer Race. Denn der Trieb nach Besonderung, der 
Trieb nach Vereinzelung, ist ein Charakterzug unseres deutschen Volkswesens. 
Aus diesem Centrifugaltriebe unseres Charakterzuges gehen aber unsere schön- 
sten Tugenden und unsere größten Fehler hervor, er beherrscht unsere ganze 
Geschichte, er ist die Veranlassung der glänzendsten Perioden unserer Ge- 
schichte aber auch der größten Schmach, der größten Erniedrigung, die über 
Deutschland kommen konnte, weil er Deutschland in tausend Theile zu zer- 
reißen vermochte. Nachdem nun der Trieb nach Besonderung, diese centri- 
fugale Kraft das äußerste Ziel erreicht hatte, da ist allerdings eine rück- 
läufige Bewegung in der deutschen Nation eingetreten, und es ließ sich 
schon damals voraussehen, daß es nur dann gelingen werde, eine Wiederver= 
einigung der getrennten Stämme zu schaffen, wenn man im Stande ist, 
diesen übermächtigen Trieb des Auseinandergehens durch eine starke Central- 
gewalt zu beschränken, und daß nur dann die nationale Einheit gefunden 
und gewonnen werden könne. Meine Herren! Das beweist auch die Ge- 
schichte der Wiedervereinigungs-Versuche der Deutschen Nation. Eine Menge 
von Versuchen sind nicht geglückt und mußten mißglücken, weil diese starke 
Centralgewalt nicht geschaffen werden konnte, die diesen übermächtigen Trieb 
der Besonderung zu beschränken oder aufzuheben vermochte. Es liegt auch 
in der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes noch ein anderer 
merkwürdiger Zug, daß wir im Frieden am allerwenigsten zu solchen Werken 
der Einigung zu kommen vermögen. Je mehr wir Frieden haben, desto 
mehr gehen unsere Anschauungen auseinander, desto mehr sondern wir uns 
von einander ab; seit den Zeiten des Tacitus führt nur der Krieg uns unter 
Einen Hut. Und so geschah es auch jetzt wieder. Mit dem Kriege von 
1866, der ganz Deutschland in seinen Grundtiefen aufwühlte, ist plätzlich 
ein mächtiger Ansatz zu staatlicher Weiedervereinigung Deutschlands zu Tage 
getreten. Aber, meine Herren, dieses staatliche Gebilde, das uns damals in 
dem Norddeutschen Bunde entgegen trat, dieses Gebilde enthielt die 
centrale Macht besser, die centrale Uebermacht in einer so stark hervortreten- 
den Weise, daß wir darin abermals kein Heil für Deutschland erblicken 
konnten. Denn aufgehoben, gänzlich aufgehoben, vernichtet und unterdrückt 
darf dieser Grund und Charakterzug des deutschen Wesens, das Recht der 
freien Selbstbestimmung, nicht werden; beschränkt muß er werden, aber 
aufgehoben werden darf er nicht. Diese übermächtige Centralgewalt be- 
drohte alle noch in einer gewissen Selbständigkeit bestehenden Einzelnstaaten, 
soweit sie noch nicht von ihren eisernen Klammern erfaßt waren, mit der 
Gefährdung ihrer Existenz, und es bildete sich zur Abwehr dieser Gefahr eine 
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